Politik ist ein brutales Geschäft. Das gilt auch – oder gerade? – für die deutsche Sozialdemokratie. Dort lässt man vor allem das Spitzenpersonal gerne Achterbahn fahren, bis die Sinne schwinden. Vor Jahresfrist noch Mister 100 Prozent, dann Watschenmann und Wahlversager, potenzieller Versorgungsfall, am Ende doch Außenminister. Oder einst ungeliebter Parteivorsitzender, dann als Wirtschaftsminister schon von Amts wegen quer zur Grundbefindlichkeit der Parteimitglieder, als Außenminister aber einsam leuchtender Stern am Umfragehimmel – und am Ende bloß ein Hinterbänkler aus der Provinz. Bis Mittwochmittag fragten sich noch alle: Was wird nur aus Martin Schulz? Nun heißt es: Was wird wohl aus Sigmar Gabriel?
Jeder andere Kabinettsposten mit Ausnahme des Finanzministers wäre ein Karriereknick, doch den Bundesetat soll künftig Genosse Scholz aus Hamburg verwalten, als Vizekanzler. (Was ein echter Coup ist, wenn man die miese Ausgangslage der SPD bedenkt.) Jeder andere Parteiposten außer Bundesvorsitzender oder Fraktionschef wäre für Gabriel ein Rückschritt. Aber derzeit gehört er nicht einmal zum Parteivorstand. Und er wird sich zweimal überlegen, ob er sich jetzt mit der ebenso lauten wie inzwischen mächtigen Andrea Nahles anlegt – und damit mit der kompletten Solidargemeinschaft sozialdemokratischer Frauen.
Dabei ist der frühere Ministerpräsident von Niedersachsen ja nicht völlig alleine. Seine Hausmacht ist der zweitgrößte Landesverband der SPD, ihm entstammt auch Generalsekretär Lars Klingbeil. Doch die Abteilung Attacke in der Fraktion leitet jetzt statt Thomas Oppermann der Erfurter Carsten Schneider. Hubertus Heil aus Peine und Matthias Miersch aus Hannover finden sich immerhin noch unter den neun Stellvertretern von Chefin Nahles.
Vom Tiger zum Bettvorleger
Und am nächsten Kabinettstisch? Dort sind seitens der SPD Berlin, Hamburg, zweimal Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und das Saarland vertreten. Welch eine Ironie, denn in kaum einem Landesverband war die Zustimmung zur nächsten Groko größer als in Niedersachsen. Immerhin: Sechs Ministerposten sind mehr, als wohl mancher Groko-Befürworter in der SPD zu erhoffen wagte.
Man wird sich auch mit manchen Inhalten des Koalitionsvertrages trösten – und die kritischen und skeptischen Reaktionen der Wirtschafts- und Unternehmerverbände als Bestätigung nehmen. Seht doch, liebe Restwählerschaft, liebe Ex-Wähler, ihr aufmüpfigen Jusos: Wir haben unsere Seelen nicht verkauft, sondern unter schwierigsten Umständen das Maximum herausgeholt. So wird man es bis März anpreisen, wenn es beim Mitgliederentscheid ums Ganze geht. Vielleicht klappt es ja. Trotzdem ist die SPD schon sehr früh falsch abgebogen. Man hätte Martin Schulz sofort als Nachfolger von Frank-Walter Steinmeier im Auswärtigen Amt durchsetzen sollen. Auf dem Posten hätte er genug Popularität erwerben können, um Merkel wirklich gefährlich zu werden. Doch diese Chance ist verpasst. Jetzt wird er gegen seine eigene Ankündigung Bestandteil des Kabinetts Merkel IV und damit vom Tiger zum Bettvorleger.
Man kann und mag sich nicht vorstellen, dass Gabriel dieses Trauerspiel künftig nur noch als Abgeordneter des Wahlkreises Salzgitter-Wolfenbüttel im Bundestag verfolgt. Er wird vermutlich nicht wie ein anderer prominenter Niedersachsen-Sozi wohldotiert in die Dienste eines Konzerns treten und sich am Wochenende in der Promi-Loge eines Fußball-Bundesligisten vergnügen. Wahrscheinlich wird er auch nicht bloß gegen stattliches Honorar Vorträge vor Managern halten. Angesichts der wechselvollen Historie der deutschen Sozialdemokratie erscheint die These nicht allzu kühn, dass die turbulente Geschichte des Genossen G. noch eine weitere Pointe haben wird.