Will die deutsche Sozialdemokratie ihrem Anspruch, gesamtdeutsche Volkspartei zu sein, gerecht werden, muss sie Ostdeutschland stärker in den Blick nehmen. Dazu braucht es eine ehrliche Analyse, neue Perspektiven sowie eine Stärkung der Strukturen vor Ort. Die SPD hat die Chance, in der neuen Regierung viel zu bewegen. Zentrale Projekte stärken den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft: Investitionen in Bildung, Pflege, Rente, Wohnen, Digitalisierung. Mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey sitzt eine wichtige Stimme der SPD aus dem Osten im Kabinett. Deutschland darf nicht länger auf die Erfahrungen aus Ostdeutschland verzichten und muss strukturelle Schwächen ernster nehmen. So können auch Lösungen erarbeitet werden, die für Regionen im Westen hilfreich wären.
So steht Ostdeutschland für eine moderne Familienpolitik, eine vielfältige Kulturlandschaft und ein breites Wissens- und Forschungsspektrum. Durch die Aufbauleistung nach 1989 sind die Ostdeutschen eine Bereicherung für das ganze Land. Die SPD hat im Osten viele verloren: Das Ergebnis der Bundestagswahl hat sich mit 14,5 Prozent in Ostdeutschland gegenüber 2005 halbiert. Dabei hat die SPD überall Regierungserfahrung – in drei Ländern: Brandenburg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern – ist sie stärkste Kraft. Fast schon ist vergessen, dass die Ostdeutschen die Wahlsiege Gerhard Schröders möglich machten. Heute geht die Schwäche der SPD einher mit einer Zunahme rechter Kräfte. Nur 21 SPD-Abgeordnete vertreten die fünf ostdeutschen Bundesländer und Berlin im Bundestag, aber 31 Abgeordnete der AfD.
Identifikation vor Ort
Wir brauchen eine ehrliche Aufarbeitung der Nachwendezeit und ihrer Folgen – in Ost und West. 28 Jahre Einheit sind keine Garantie für gleiche Lebensbedingungen und gleiche Einstellungsmuster. Die Folgen der Transformation bezogen auf den ländlichen Raum, Langzeitarbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsbedingungen haben sich tief eingegraben in die Lebensrealität der Ostdeutschen. Es gibt weniger Vermögen und Erbschaften, kaum jemand zahlt aufgrund seines Einkommens eine Spitzensteuer. Die Aufbaugeneration nach 1990 macht sich zurecht Sorgen um ihre Rente. Altersarmut wird zu einer zentralen Gerechtigkeitsfrage. Und der Wandel geht weiter: Demografischer Wandel, digitaler Wandel. Zukunft ist für viele ein Synonym für Unsicherheit und Verschlechterung. Im Osten erleben die Menschen in kurzer Zeit den zweiten Strukturwandel.
Wir sollten diese Erfahrungen nutzen, um gemeinsam neue Antworten zu finden. Dazu braucht es eine andere Sprache, zukunftsweisende Themen, eine klare Haltung und mehr Personal vor Ort. Wir brauchen Personen, mit denen sich Menschen vor Ort identifizieren. Deshalb wird die SPD einen Ostbeauftragten benennen. Eine selbstbewusste unabhängige politische Stimme, die Debatten und Diskurse anregt, Netzwerke knüpft und Personen aktiviert. Wir müssen die Ost-SPD auch als Wegbereiter der Modernisierung in der Partei verstehen. Nur, wenn Politik für die Bürger erreichbar ist, wird sie auch verstanden. Nur so werden wir Vertrauen in die Demokratie zurückgewinnen und die Sozialdemokratie als gesamtdeutsche Kraft stark machen. Mit Zuversicht und Selbstbewusstsein.
Unsere Gastautoren Manuela Schwesig ist Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und war zuvor Bundesfamilienministerin. Martin Dulig soll künftig Ostbeauftragter der SPD werden.