Herr Scheuch, zu Weihnachten werden viele Menschen quer durch die Republik und aus dem Ausland anreisen, um sich unter der Tanne zu versammeln. Viele vermuten, dass das die Zahl der Infektionen, vor allem mit der Omikron-Variante, anschwellen lässt. Was kann man dagegen tun?
Gerhard Scheuch: Man sollte versuchen, die Feiern zu entzerren. Das heißt, nicht die Großeltern beider Seiten auf einmal einzuladen, sondern nacheinander, an den verschiedenen Tagen oder zu verschiedenen Uhrzeit. Gut ist es auch, die Treffen nicht zu lange auszudehnen. Wenn möglich, sollten sich die Gäste über verschiedene Räume verteilen können. Spaziergänge an der frischen Luft sind sehr hilfreich. Und: in regelmäßigen Abständen zu lüften. Das ist im Winter zwar nicht so angenehm, hat aber großen Einfluss auf das Infektionsrisiko.
Sollten die Menschen vorsichtshalber FFP2-Maske tragen?
Natürlich bieten gut sitzende Masken Schutz, ob sie im Kreise der Familie getragen werden, ist eine andere Frage. Ich glaube, an einem solchen Anlass Masken zu tragen, ist zu viel verlangt, vor allem, wenn ältere Menschen unter den Gästen sind, die nicht mehr so gut hören können. Wir haben vor Kurzem den 85. Geburtstag meiner Mutter gefeiert. Wir haben darauf geachtet, dass nicht zu viele Personen mit ihr in einem Raum sind, haben regelmäßig gelüftet und die Werte eines CO2-Messgeräts kontrolliert. Das hat prima geklappt.
Sie sagen, dass sowohl die Dauer des Aufenthalts als auch die Zahl der Besucher das Infektionsrisiko erheblich beeinflussen. Können Sie das bitte näher erläutern?
Doppelt so viele Menschen in einem Raum erhöhen das Infektionsrisiko um das Vierfache. Das liegt daran, dass sich die Wahrscheinlichkeit verdoppelt, dass unter den Gästen oder Familienmitgliedern jemand ist, der infiziert ist. Dieser Infizierte kann auch doppelt so viele Menschen anstecken – so erklärt sich das insgesamt vierfache Risiko.
Dieses Risiko vergrößert sich weiter, je länger das Treffen dauert?
Das kann man sich so klarmachen: Wenn man in einen Raum kommt, indem irgendein Schadstoff gleichmäßig verteilt ist, nimmt man, je länger man sich in dem Raum aufhält, desto mehr Schadstoff auf. Wenn sich eine infizierte Person in einem Raum befindet, erhöht sich die Konzentration der Aerosole und Viren im Raum mit jedem Ausatmen. Je länger man sich in diesem Raum aufhält, desto größer ist damit die Gefahr, sich zu infizieren, weil man mehr Luft aus dem Raum in sich aufnimmt. Das gilt vor allem für die Winterzeit mit trockener Luft und geringer Luftfeuchtigkeit.
Deshalb warnen Sie davor, sich für den Weihnachtsbesuch in überfüllte Züge zu setzen?
Für Waggons gilt dasselbe wie für andere geschlossen Räume: je voller sie sind und je länger die Fahrt dauert, desto höher das Ansteckungsrisiko. In der momentanen Situation ist es ausnahmsweise besser, mit dem Auto zu den Verwandten zu fahren.
In einer Ihrer Expertisen stellen Sie fest, dass sich das Infektionsgeschehen vor allem auf bestimmte Cluster und sogenannte Superspreader konzentriert. Die momentane Corona-Politik nimmt darauf wenig Rücksicht ...
Es nützt nichts, Maßnahmen zu verschärfen, die nichts bringen. Dieser Satz stammt von dem Medizinstatistiker Gerd Antes. Dem kann ich mich nur anschließen, wenn ich sehe, dass auf Weihnachtsmärkten – also unter freiem Himmel – Maskenpflicht gilt. An der frischen Luft kommt es zu so gut wie keinen Ansteckungen. Es macht also keinen Sinn, dort etwas reduzieren zu wollen. Man muss da aktiv werden, wo man viel erreichen kann. Man sollte also eher alles tun, um die Menschen zu motivieren, ins Freie zu gehen, weil das Ansteckungsrisiko in Innenräumen deutlich höher ist. Deshalb verstehe ich auch nicht, wie man Ausgangssperren verhängen kann. Es ist besser, sich draußen aufzuhalten als in einem Partykeller oder in einem Raum, wo man die Fenster nicht öffnet, damit die Nachbarn nichts merken.
Muss man sich wegen der Omikron-Variante besonders in Acht nehmen?
Die Übertragungswege sind dieselben. Es sind also grundsätzlich dieselben Regeln zu beachten. Ich halte es für möglich, aber das ist bislang eine reine Vermutung, dass die Omikron-Variante dazu führt, dass ein infektiöser Mensch nicht nur rund 120.000 Viren pro Liter ausgeatmeter Luft, sondern womöglich 500.000 pro Liter abgibt. Dazu gibt es allerdings noch keine Daten. Es gibt aber gerade ein Publikation aus Hongkong in der gezeigt wird, dass sich die Viren in den Atemwegen 70-mal schneller vermehren als die ursprünglichen Varianten. In den Lungenbläschen vermehren sie sich aber zehnmal langsamer. Das könnte erklären, warum Omikron zwar ansteckender ist, aber nicht so schwere Erkrankungen hervorruft.
Hätten Sie gedacht, dass auch dieses Weihnachtsfest so von den Schrecken der Pandemie gekennzeichnet sein wird?
Nein. Ich hätte nicht gedacht, dass wir so schnell in eine vierte Welle geraten und dass sie mit so hohen Infektionswerte einhergeht. Ich war deutlich optimistischer. Ich habe gedacht, dass sich die Lage deutlich entspannt, wenn sich viele Menschen impfen lassen. Aber ich bin auch kein Virologe oder Epidemiologe, und es gibt, was diese Pandemie betrifft, noch einige Phänomene, die wir nicht hinreichend erklären können.
Beispielsweise?
Die Kurvenverläufe des Infektionsgeschehens sind eigenartig: Es handelt sich nicht um Wellen, sondern eher um Zacken. Die Infektionszahlen schießen in die Höhe, verdoppeln sich teilweise von Woche zu Woche. Dann gibt es einen Höchststand, von da an verlangsamt sich das Geschehen nicht, sondern kehrt sich um. Auf einmal rauschen die Infektionszahlen wieder nach unten. Das lässt sich womöglich mit dem Verhalten der Menschen erklären. Es gilt als entscheidender Faktor. Wenn die Ansteckungen steil ansteigen, werden sie vorsichtig, entspannt sich die Lage, werden sie unvorsichtiger. Es sind offenbar kleine Verhaltensänderungen – wie der Verzicht auf einen Restaurantbesuch beispielsweise – die insgesamt einen großen Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben.
Sie stellen fest, dass es wenig Sinn macht, sich unablässig die Hände zu desinfizieren. Es gibt aber weiterhin kaum einen Laden oder ein Restaurant ohne Spender mit Desinfektionsmittel.
Wenn man sich über die Haut oder den Kontakt mit Flächen infizieren würde, würden sich viel mehr Menschen unter freiem Himmel anstecken. Das heißt, dass man diese Infektionsgefahr nahezu ausschließen kann. Der einzige Weg, sich über Hautkontakt mit dem Virus zu infizieren, ist, wenn man sich tief in der Nase bohrt oder sich den Finger tief in den Rachen stecken würde. Von der immer wieder verbreiteten AHA-Regel bleibt damit eigentlich nur ein A als sinnvoll übrig, das beachtet werden muss: Abstand halten. Alltagsmasken eignen sich nicht, übermäßiges Händewaschen ist nicht nötig. Ich rede deshalb inzwischen von den ALARM-Regeln: An die frische Luft, Lüften, Abstand halten, Reduzieren von Kontakten in Innenräumen und medizinische Masken tragen.
Man sollte meinen, dass sich nach 20 Monaten Pandemie Grundkenntnisse über die Verbreitung des Virus herumgesprochen haben. Trotzdem sieht man noch Menschen, die ihre Maske unter der Nase tragen.
Es gibt sicher weiterhin gesellschaftliche Gruppen, um die man sich in besonderer Weise kümmern müsste, um ihnen dieses Wissen zu vermitteln und sie vor einer Infektion zu schützen. Nach einer Studie von Hausärzten ist unter Infizierten der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund deutlich höher als ihr Anteil an der Bevölkerung. Darauf muss man reagieren, wenn man weitere Wellen verhindern will.
In der „Ärztezeitung“ wird auf die Daten von sechs Bremer Hausarztpraxen verwiesen. Einer von ihnen stellt dort fest, dass „eine Infektion mit SARS-CoV-2 eine Erkrankung der Armen“ sei.
Das ist sicher etwas dran. Menschen mit wenig Geld leben und arbeiten oft auf engem Raum zusammen. Da kann sich das Virus ungeheuer schnell verbreiten.
Wie geht es weiter?
Eine Lernkurve ist schon zu verzeichnen. Sie könnte steiler sein, aber Wissenschaftler sind oft ungeduldig. Viele Menschen verhalten sich äußerst diszipliniert. Viele Einrichtungen sind mit Luftfiltern und Co2-Ampeln ausgestattet. Was mich enttäuscht hat: dass in den neuen Expertenrat wieder kein Aerosolspezialist berufen wurde. Es reicht nicht, die Bürgerinnen und Bürger dazu anzuhalten, sich impfen zu lassen. Die Pandemie wird, anders als gehofft, nicht durch das Impfen beendet. Auch Menschen, die geboostert sind, können sich und andere anstecken. Wir müssen der Bevölkerung vermitteln, was sie tun kann, ganz praktisch, um sich und andere effektiv zu schützen. Wir müssen motivieren. Das kommt leider viel zu kurz.