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Tötungen in Kliniken Prozessauftakt: Högel-Vorgesetzte in acht Fällen angeklagt

Oberärzte, Führungspersonal, ein Klinik-Geschäftsführer: Acht Angeklagte stehen seit Donnerstag vor Gericht, weil ihnen vorgeworfen wird, von Niels Högels Taten gewusst, sie aber nicht verhindert zu haben.
17.02.2022, 18:52 Uhr
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Prozessauftakt: Högel-Vorgesetzte in acht Fällen angeklagt
Von Katia Backhaus

Der fünfte Prozess um die Morde des Pflegers Niels Högel in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst hat am Donnerstag vor dem Oldenburger Landgericht begonnen. Doch dieses Mal wird Högel nicht erneut am Platz des Angeklagten, sondern auf dem Zeugenstuhl sitzen. Verantworten müssen sich in dem Verfahren sieben seiner ehemaligen Vorgesetzten, von der stellvertretenden Pflegestationsleiterin bis zum Klinik-Geschäftsführer. Am ersten Verhandlungstag zeigte sich schnell, dass dieser fünfte Prozess einer besonderen Schwierigkeit unterliegt: Das heutige Wissen um die Taten Niels Högels muss ein Stück weit ausgeblendet werden.

"Die Uhren sind von unserer Seite auf null gestellt", sagte Vorsitzender Richter Sebastian Bührmann. Was er damit meinte: In dem nun anlaufenden Verfahren muss erneut geklärt werden, ob Niels Högel Menschen vorsätzlich im Krankenbett tötete. Nur so, das betonten auch mehrere Vertreter und Vertreterinnen der Verteidigung, könne ein "Rückschaufehler" vermieden werden. Aus heutiger Perspektive und mit dem Wissen darum, dass der Pfleger für rund 90 Taten verurteilt wurde und möglicherweise noch mehr begangen hat, mag es äußerst fragwürdig erscheinen, dass Stationsleitung und Team keinen Verdacht gegen Högel schöpften. Doch wie stellt sich die Situation dar, wenn man sich in das Jahr 2001 oder in das Jahr 2005 zurückversetzt?  

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Um das herauszufinden, wird das Gericht in den folgenden 40 Verhandlungstagen versuchen müssen, die Ereignisse jener Zeiträume nachzuvollziehen, die für die Anklage gegen die sieben Beschuldigten eine Rolle spielen. Für die vier ehemaligen Beschäftigten des Klinikums Oldenburg sind das die Wochen zwischen Ende Oktober und Anfang Dezember 2001. Bereits Ende Oktober, so die Anklage, sollen die Pflegedirektorin, der ärztliche Leiter und der Pflegeleiter der Intensivstation sowie der Geschäftsführer des Klinikums es für möglich gehalten haben, dass Högel vorsätzlich Patienten tötete – jedoch nicht eingeschritten sein und damit weitere Taten billigend in Kauf genommen haben. Drei Menschen starben, Anfang Dezember wechselte Högel auf die Anästhesiestation.

Für die drei Angeklagten, die ehemals im Klinikum Delmenhorst tätig waren, erstreckt sich der für das Verfahren entscheidende Zeitraum zwischen Ende Mai und Ende Juni 2005. Fünf Menschen spritzte Högel in dieser Zeit nicht verordnete Medikamente, drei von ihnen starben, so die Anklage. Seit Anfang Mai 2005 habe die damalige stellvertretende Pflegebereichsleiterin auf der Intensivstation einen Verdacht gegen ihn gehegt, aber nichts unternommen. Deshalb werden ihr alle fünf Fälle zur Last gelegt. Den beiden anderen Beschuldigten, zwei Oberärzten, soll am 23. Juni berichtet worden sein, Kollegen hätten Högel auf frischer Tat ertappt: Er habe einem Patienten unberechtigterweise ein Medikament verabreicht, das eine Wiederbelebungsmaßnahme nötig machte. Dadurch, dass die Ärzte nicht sofort verhinderten, dass Högel weiter auf der Station arbeitete, sei eine weitere Patientin am 24. Juni zu Tode gekommen, heißt es vonseiten der Staatsanwaltschaft.

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Im Saal der Weser-Ems-Hallen in Oldenburg, wohin das Landgericht das Verfahren einerseits aufgrund der coronabedingten Abstandsregeln, andererseits aufgrund der Vielzahl der Angeklagten, ihrer Verteidiger und Verteidigerinnen und der Medienvertreter und -vertreterinnen verlegt hatte, herrschte am Donnerstag ein zwar ruhiger und respektvoller, aber in der Sache harter Ton. In ihren Eröffnungsstatements kritisierten die Verteidiger die Anklageschrift als "falsch", "mangelhaft" und den Sachverhalt nur unvollständig abbildend. Högels Taten als gegeben vorauszusetzen, sei nicht mehr als eine Verdachtshypothese, die Anklageschrift ein Resultat des sogenannten Rückschaufehlers.

Auch das von der Staatsanwaltschaft vorgetragene Motiv für die Unterlassung, also das Nicht-Eingreifen, die Reputation des jeweiligen Krankenhauses wahren zu wollen, sei unplausibel. "Wie soll der Ruf einer Klinik durch das Gewährenlassen eines Mörders geschützt werden?", fragte einer der Verteidiger. Und: Weshalb sollten Menschen, deren Beruf es ist, das Leben anderer zu retten, sie zu heilen und zu pflegen, plötzlich den herbeigeführten Tod im Krankenbett billigend in Kauf nehmen? Auf eigene Einlassungen am ersten Prozesstag verzichteten sämtliche Angeklagten, die teilweise mit einem vierköpfigen Verteidigungsteam angereist waren. Fortgesetzt wird die Verhandlung am Dienstag, 1. März, mit der Vernehmung des ersten Zeugen: Niels Högel.

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Was zuvor geschah

Zwischen 2000 und 2005 soll Niels Högel, geboren 1976, in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst mehr als hundert Menschen durch die nicht verordnete Gabe von Medikamenten getötet haben. Viermal stand er deswegen vor Gericht, im letzten Prozess 2019 erhielt er wegen 85-fachen Mordes eine lebenslange Haftstrafe unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Zuvor war er bereits wegen sechs weiterer Taten zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Im Vorfeld des am Donnerstag begonnenen Prozesses hatte es mehrere Befangenheitsanträge gegen Richter Sebastian Bührmann und Mitglieder der Strafkammer gegeben, weil sie auch früheren Prozessen gegen Högel vorgesessen hatten. Weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht sahen Gründe für den Ausschluss.

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