Natürlich wird jetzt überall auch der markante Höger-Bau zu sehen sein, die dunkelrote Backsteinfront. Die Geschichten um den Serienmord-Prozess gegen den ehemaligen Krankenpfleger Niels Högel müssen ja bebildert werden. Und weil Högel im aktuellen Prozess vor dem Landgericht Oldenburg zu Beginn eines Verhandlungstages immer sein Gesicht mit einem Aktendeckel abschirmt, müssen auch andere Motive herhalten. Das Klinikum Oldenburg zum Beispiel, an dem die Ermittler meinen, Högel 36 Morde nachweisen zu können. Und eben das Josef-Hospital Delmenhorst (JHD), das aus dem Josef-Stift und dem städtischen Klinikum entstand, an dem Högel 64 Patienten ermordet haben soll.
Am JHD haben sie sich darauf vorbereitet. Sie reden jetzt auch über den Prozess. Das war 2014/2015, als sich Högel erst einmal nur für die vergleichsweise kleine Zahl von fünf Patiententötungen vor dem Landgericht verantworten musste, noch anders. Transparenz ist angesagt. Nur zu der Anklage gegen vier teils ehemalige Mitarbeiter wegen Totschlags durch Unterlassen wird nichts gesagt, weil es ein laufendes Verfahren ist. Trotzdem ist es eine neue Qualität, dass über Högel und seine Taten und den Prozess gesprochen wird. Florian Friedel, der das Haus seit Ende 2017 leitet, der zwölfeinhalb Jahre nach Högels letzter Tat kam, also das gesamte Geschehen auch nur in der Rückschau und nicht aus eigenem Ansehen bewerten kann, macht aber auch einen Paradigmenwechsel aus. „Es wird nicht mehr so sehr gefragt, was damals geschehen ist. Wir werden gefragt, was wir getan haben, damit sich so etwas nicht wiederholt.“
Das JHD hat, auch als Konsequenz aus dem Prozess, der vor vier Jahren begann und in dem das Haus in seiner Außendarstellung nicht besonders gut abschnitt, mittlerweile viele Sicherheitsmaßnahmen etabliert. „Uns muss aber auch klar sein, dass es einen hundertprozentigen Schutz, gerade auch vor Einzeltaten, nicht geben kann“, sagt der Ärztliche Direktor des JHD, Frank Starp. Denn immer noch sind Krankenhäuser Orte, in denen Mordtaten leicht möglich sind. Die Waffen in Form von Medikamenten und Spritzen sind stets verfügbar, die Opfer vielleicht eh so krank, dass sich kaum jemand über deren Ableben wundert. Wenn dann ein Pfleger oder Arzt durchdreht und tötet, kann man sich nicht vorab schützen. „Inzwischen fühlen wir uns aber sehr gut gerüstet, um zumindest eine Tötungsserie schneller zu erkennen.“
Ein Baustein, der am JHD in dieser Form deutschlandweit einzigartig sein dürfte, ist die Qualifizierte Leichenschau. Und obwohl sie in Niedersachsen bei der Änderung des Gesetzes zum Leichen-, Bestattungs- und Friedhofswesen keine Pflicht geworden ist, halten die Delmenhorster an ihr fest. Nach dem Tod eines Patienten wird nicht nur – wie in anderen Häusern üblich – die Todesbescheinigung durch einen Krankenhausarzt ausgestellt, der im Zweifelsfall gerade von einer ganz anderen Station kommt und die Krankengeschichte gar nicht kennt. Und der sehr wahrscheinlich auch kein ausgeprägtes Interesse daran hat, Behandlungsfehler der eigenen Kollegen an die große Glocke zu hängen.
Deswegen erfolgt in Delmenhorst nun zusätzlich eine zweite Leichenschau durch einen externen Rechtsmediziner, der die natürliche Todesursache bestätigt. Da eine per Spritze zugefügte tödliche Medikamentenüberdosis bei einem Krankenhauspatienten aber gar nicht erkannt werden kann – schließlich werden den meisten Patienten immer mehrere Zugänge gelegt –, ist die sogenannte Plausibilitätsprüfung das entscheidende Element in diesem Verfahren. Wenn der Rechtsmediziner also stutzt und meint, eine Unregelmäßigkeit festgestellt zu haben, werden umgehend die zuständige Station sowie Staatsanwaltschaft und Polizei alarmiert.
Abgerundet wird das Sicherheitspaket durch weitere Maßnahmen wie zum Beispiel Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen, in denen alle Todesfälle, Komplikationen und Beinahezwischenfälle analysiert werden, ein Whistleblowing-System, mit dem Mitarbeiter anonym Auffälligkeiten melden können, die statistische Aufarbeitung des Arzneimittelverbrauches und ein Stationsapotheker, den die Delmenhorster bereits eingeführt hatten, bevor es das Niedersächsische Krankenhausgesetz verlangt hat.
Insgesamt hat sich vieles am Delmenhorster Krankenhaus im Umgang mit diesem Verfahren, das schier historische Ausmaße hat, geändert. „Wir begrüßen den Prozess sehr“, erklärt Starp. „Es ist für uns von zentraler Bedeutung, dass die Taten von Niels Högel vollständig aufgeklärt werden. Das ist ein wichtiges Signal an die Öffentlichkeit. Auch für die Angehörigen ist es wichtig, dass die Justiz hier mit aller Härte vorgeht.“ Zumal der Prozess vielleicht auch noch weitere Erkenntnisse liefere, wie man die Patientensicherheit noch weiter erhöhen könne. Auch soll sich der Umgang mit den Angehörigen ändern, offener, kommunikativer werden. Vor vier Jahren verhielt sich das Haus vor allem bürokratisch korrekt, damit der Versicherungsschutz mit Blick auf mögliche Schmerzensgeld- und Schadenersatzzahlungen nicht erlöschen wird.
Starp betont, dass nun ein „deutliches Signal“ in Richtung der Familien der Opfer aus dem JHD gesendet werden soll. „Uns ist bewusst, wie schwierig die Situation für die Angehörigen ist. Ihnen allen gilt nach wie vor unser Mitgefühl. Ich möchte daher noch einmal anbieten, dass wir jederzeit gesprächsbereit sind.“ Auch wenn ein Großteil der heute am JHD beschäftigten Mitarbeiter zur Zeit von Niels Högel noch gar nicht dort gearbeitet hat, so wie auch Starp selbst, ist die Betroffenheit unter den Beschäftigten groß. „Sie kennen alle dieses latente Gefühl, in Sippenhaft genommen zu werden“, sagt Geschäftsführer Friedel. Er hat in einem Schreiben an die Mitarbeiter auch noch einmal betont, dass sie sich jederzeit an ihn, seine Assistentin oder den Ärztlichen Direktor wenden können, um Dinge zu besprechen. Starp hat sich nach eigenen Aussagen in den vergangenen Monaten bereits mit Angehörigen getroffen. „Ich hatte den Eindruck, dass das Besprechen einiger offener Fragen und die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Thema für die Betroffenen eine emotionale Hilfe war.“
Spannend dürfte in dem gesamten Prozess auch sein, ob sich das Verfahren in den Patientenzahlen niederschlägt. Immer wieder wurden die Taten von Niels Högel als Grund für einbrechende Patientenzahlen genannt, obwohl die Morde schon länger als ein Jahrzehnt zurücklagen. „Das Haus hat durch die Taten von Niels Högel sicherlich Patienten verloren, die wir nun auch wieder zurückgewinnen möchten. Wir spüren aber keinen grundsätzlichen Vertrauensverlust in der Bevölkerung“, stellt Starp fest. „Die überwiegende Zahl der Menschen in Delmenhorst und Umgebung steht nach wie vor zum Krankenhaus und weiß, was für hervorragende Arbeit unsere Mitarbeiter Tag für Tag leisten. Wir alle haben aus diesem Fall gelernt. Auch die Mitarbeiter sind sensibilisiert und achten verstärkt auf Warnsignale.“