1992 hat Werder Bremen den AS Monaco im Finale des Europapokals der Pokalsieger geschlagen. Für die Grün-Weißen war es eine außergewöhnliche Nacht - vor, während und erst recht nach dem Spiel.
Wenn man sich mal die Rubrik „Werder in Noten“ vornimmt, dann muss man leider feststellen: So populär sie auch sein mag, so angreifbar ist sie. Ist sie schon immer gewesen. Laut Spielernoten waren Werders Spieler am 6. Mai 1992 im Schnitt so ganz okay. Viel mehr eigentlich nicht. Am 6. Mai 1992 haben sie aber den sportlich hochwertigsten Triumph errungen, den je eine Werder-Elf errungen hat. Den Europapokal der Pokalsieger. Im Finale gegen den Favoriten AS Monaco. Eine bessere Note als eine 3 hat damals kaum einer der Helden jenes 2:0-Erfolgs bekommen. Nur der früh eingewechselte Thomas Schaaf, Klaus Allofs und Wynton Rufer erhielten wenigstens eine 2. Von Schaaf sagte man später, es sei das beste Spiel seiner langen Karriere gewesen. Allofs und Rufer hatten je ein Tor geschossen und eines vorbereitet.
Soll man sich also den großen Triumphzug als ein Allerweltsspiel vorstellen? Vor einer Kulisse, die eher nach Testspiel aussah als nach einem Europacup-Finale? Knapp 15.000 Zuschauer hatten den Weg ins Estadio da Luz gefunden. 15 000. Das kann eine prächtige Kulisse sein, aber nicht im später abgerissenen und neuerbauten Estadio da Luz. 1992 betrug sein Fassungsvermögen 120.000 Besucher, bei einem Liga-Spiel zwischen Benfica und Porto waren fünf Jahre zuvor mal 135.000 Leute gezählt worden.
Ein kolossales grün-weißes Ereignis
Natürlich war es kein Allerweltsspiel, und natürlich spielte die Zuschauerzahl für die Bremer nur eine untergeordnete Rolle. Sie wollten diesen Cup, nichts anderes. Sie genossen dieses Spiel, und sie feierten diesen Sieg, wie sie noch nie einen Sieg gefeiert hatten. Es wurde für sie eine Super-Nacht.

Der Mann für den Sekt: Willi Lemke befüllt den Pokal.
Das ist wohl das, was diesen großen Werder-Erfolg am besten charakterisiert, der sich am Sonnabend zum 25. Mal jährt. Es war kein Erfolg, der Werder plötzlich auf eine neue Stufe hob. Der in der Nachbetrachtung einen Wendepunkt darstellte. Weil Werder durch ihn ganz viele neue Vereinsmitglieder oder Sponsoren bekam, weil sich fortan viel mehr Leute für Werder interessierten. So etwas geschah erst Jahre später, als die inzwischen von Trainer Thomas Schaaf und Manager Klaus Allofs geführte Mannschaft das Double holte. Der große Sieg von 1992 bewirkte so etwas nicht. Werder konnte sich nicht plötzlich ganz andere und viel teurere Spieler leisten. Gemessen an heutigen Maßstäben schüttete die Uefa nicht sonderlich viel Geld aus. „Vielleicht eine Million“, schätzt der damalige Manager Willi Lemke. Eine Million D-Mark, nicht Euro. Diese Nacht von Lissabon stand und steht einfach für sich: als kolossales grün-weiße Ereignis.
Rehhagel öffnet seinen heiligen Schutzraum
Seine Einzigartigkeit begann schon bei der Aufstellung. Bereits am Abend vorm Spiel verkündete der große Trainerfürst Otto Rehhagel seinen nicht minder überraschten Profis, dass er den französischen Gegner überraschen wolle. Er werde im Sturm Klaus Allofs einsetzen, der lange in Frankreich gespielt hatte. Der war 1992 bereits 35, hatte ein kaputtes Knie und kaum noch gespielt im Liga-Betrieb. Wynton Rufer, der freche Angreifer aus Neuseeland, lästerte Jahre später, Allofs sei ja mit einem Holzbein aufgelaufen. Und verriet: Er habe nach der Mannschaftsbesprechung seinen Vater angerufen. Werder werde verlieren. Rehhagel lasse den Allofs spielen! Im Estadio legte ihm der überragende Allofs zum 2:0 auf. Der Treffer ging in die Werder-Geschichte ein. Jeder Fan kennt ihn: den langen Steilpass von Allofs. Rufer, wie er auf den Torwart zurennt, den Ball rechts am Keeper vorbei lupft, während er selbst links vorbeizieht. Rufer, wie er langsamer wird. Wie er allein mit dem Ball aufs leere Tor zusteuert und dort gerade noch rechtzeitig vorm Eintreffen der Gegenspieler hineinschießt. Mitspieler gaben später zu: Es hätte sie fast um den Verstand gebracht, wie der Rufer da vorm leeren Tor immer langsamer wurde. „Schieß, schieß doch“, brüllte Lemke auf der Tribüne. „Goal, goal“, brüllte Radioreporter Walter Jasper in sein Mikro, als Rufer endlich geschossen hatte. Das Goal-Gebrülle kennen alle Fans aus der Werder-Hymne.
Die Reporter durften anschließend in die Werder-Kabine, in Rehhagels heiligen Schutzraum. Auch das war ein einzigartiger Vorgang. Alles ging in dieser Nacht. Keine Security, keine strengen Medien-Richtlinien. Ungebremstes Glück. In voller Montur flog Vize-Präsident Klaus-Dieter Fischer ins Entmüdungsbecken. Die Verrücktheiten nahmen ihren Lauf, es wurden sehr viele Verrücktheiten in den folgenden Stunden. Willi Lemke erinnert sich noch sehr gut und mit leichtem Schaudern daran, wie er auf dem fröhlichen Rückflug von Lissabon nach Bremen mit einer Dame aus Werders Edelfan-Riege Brüderschaft getrunken hat. Die Dame habe ihm weismachen können, dass eine echte Brüderschaft nicht aus Gläsern, sondern aus Schuhen getrunken werde. Also kippten der Werder-Manager und die Werder-Anhängerin den Sekt in ihre Schuhe und besiegelten ihre neue Brüderschaft. Zur Ehrenrettung der Episode schwört Lemke, dass die Schuhe jeweils nagelneu waren, fast jedenfalls.
Lemkes Schockmoment
Der Charterflieger zurück nach Bremen transportierte an diesem Vormittag Passagiere, die wenig bis gar nicht geschlafen hatten. Lemke erzählt, er habe die Party in der Festung Cascais, nahe des Atlantiks, gegen fünf Uhr verlassen. Damit sei er einer der ersten gewesen, der sie verlassen hat. Bis zum Frühstück, drei Stunden später, habe er dann im Hotelzimmer ferngesehen. Er hatte einen TV-Sender gefunden, der in Endlosschleife die beiden Werder-Tore zeigte. Lemke konnte nicht aufhören. Er musste sie immer wieder sehen.
Die Party war wild und ausgelassen. Der stets so gestrenge Otto Rehhagel war nicht streng. Er ließ seine vermeintlichen Feinde, die Herrschaften von der Presse, diesmal dicht heran und bot dem ZDF-Reporter Rolf Töpperwien das „Du“ an. Rehhagel trank als Erster aus dem großen Pokal, den man im Zentrum des großen Party-Saals platziert hatte und in den gegen Mitternacht mehrere Flaschen Sekt gekippt worden waren. Uli Borowka und Günter Hermann lösten ihre Wette ein, dass sie sich im Falle des Europacup-Sieges eine Glatze scheren lassen würden. Dieter Eilts spielte den Friseur. Und dann ging es später noch zum Strand, da wurde es teilweise so wild, erzählt Willi Lemke, dass man das lieber nicht erzählt.
Am Morgen danach bekam Lemke erst mal einen leichten Schock. Man präsentierte ihm an der Rezeption die Hotelrechnung für die Werder-Crew. 40.000 D-Mark für zwei Übernachtungen. Das sei ungefähr das Zehnfache dessen gewesen, was zur damaligen Zeit üblicherweise auf den Reisen der Fußballer anfiel. Lemke rang nach Atem. Man zeigt ihm die Detailaufstellung: 20 kubanische Zigarren, acht Flaschen vom besten Champagner, und so weiter. Schließlich erschien Franz Böhmert an der Rezeption, der damalige Werder-Präsident. Er sah die Rechnung, sah den erblassten Lemke – und nahm seinen Manager in den Arm. „Er sagte: Willi, schau mal: Hier steht unser Pokal! Mach‘ dir keine Sorgen“, berichtet Lemke. Der Werder-Manager entspannte sich wieder. Und bald schon war er bereit für einen Schluck Sekt aus dem Schuh.