Als die Fans zu Hause vor den Fernsehgeräten schon wussten, dass Werder Bremen gerade abgestiegen war, da gab es bei Thomas Schaaf noch einen kleinen Funken Hoffnung. Er kannte die Spielstände auf den anderen Plätzen nicht. 90 Minuten lang galt seine Konzentration nur der Bremer Mannschaft, die an diesem letzten Spieltag mit 2:4 gegen Borussia Mönchengladbach verlor. Natürlich ahnte Schaaf, dass es ein historischer und trauriger Moment sein könnte, als der Schlusspfiff im leeren Weserstadion ertönte. Andererseits: Wer so viel erlebt hat im Fußball wie er, der glaubt an Wunder. Also ging er die paar Schritte vom Spielfeldrand zur Trainerbank und fragte bei seinen Assistenten nach: Sind wir abgestiegen? Als er die Antwort hörte, warf er den Kopf kurz in den Nacken, man sah ein leichtes Kopfschütteln. Dann ging er langsam und alleine in die Kabine. Die Stille im Weserstadion war in diesem Moment gespenstig.
Mehr als ein halbes Jahr ist seither vergangen. Und Schaaf denkt mit gemischten Gefühlen an jenen 22. Mai 2021 zurück, an dem Werder Bremen die Bundesliga verlassen musste. Einerseits schmerzt es ihn natürlich, dass auch er in dieser sportlichen Krisensituation nicht mehr helfen konnte. Andererseits konnte er nicht nein sagen, als ihn sein Verein um diese Hilfe bat. „Es war eine Entscheidung des Herzens, das zu machen“, sagt Schaaf, „und das ist bis heute noch so. Weil ich mit Werder Bremen so viel verbinde.“

Ein historisches Foto: Thomas Schaaf mit dem Europapokal der Pokalsieger, der Meisterschale und dem DFB-Pokal im Wuseum am Weserstadion.
Als der Verein nach acht Niederlagen in den letzten neun Bundesligaspielen die Entscheidung traf, Florian Kohfeldt zu beurlauben und die Vereinsikone Thomas Schaaf zu bitten, für das letzte Heimspiel und eine hoffentlich erfolgreiche Relegation zu übernehmen, brauchte er keine lange Bedenkzeit, erzählt er: „Ich wusste um die schwierige Situation und um die Schwere dieser Aufgabe. Aber mich verbindet so viel mit diesem Verein, dass ich mir gesagt habe: Mach das!“ Er ließ seine Aufgaben als Technischer Direktor im Klub ruhen und half. Auch nach den ersten Trainingseinheiten fühlte sich das richtig an. „In der Woche vor dem Spiel haben wir gut gearbeitet, das war alles in Ordnung. Die Mannschaft hat mitgemacht und versucht, sich auf mich einzustellen und das mitzunehmen, was ich gesagt und trainiert habe. Das war völlig okay.“ Doch im Spiel zeigte sich schnell, dass diese Bremer Mannschaft dem Druck nicht standhalten würde und auch ein erfahrener Mann wie Schaaf nicht ausreichen würde, um all die Fehler und Probleme der vorangegangenen Monate zu beheben. Nach 67 Minuten lag Werder gegen die Borussen aussichtslos mit 0:4 zurück.
Wie nah sich Freud und Leid im Fußball sein können, belegt das erste Halbjahr 2021 im Falle von Thomas Schaaf auf eindrucksvolle Weise. Die ersten Monate drehte sich alles um seinen bevorstehenden 60. Geburtstag. Der WESER-KURIER brachte ein Magazin heraus über Werders Erfolge in der Ära Schaaf. Er besuchte dafür mit den Reportern das Weserstadion und das Vereinsmuseum. Dabei entstand das erste Foto, das Schaaf mit seinen wichtigsten Trophäen zeigt: mit der Meisterschale, dem DFB-Pokal und dem Europapokal der Pokalsieger. Alle gewonnen mit und für Werder Bremen. Beim Interview saß er sogar noch einmal auf der Trainerbank unten im Stadion, um von Werders großen Jahren zu erzählen - und keiner konnte ahnen, dass er genau hier bald wieder für ein Spiel im Amt sein würde. Doch so kam es, drei Wochen nach seinem 60. Geburtstag, den Schaaf Ende April feierte.
Was auch keiner ahnen konnte: Dem Abstieg folgte nur vier Wochen später die nächste Enttäuschung – und wieder kann man nicht sagen, dass Thomas Schaaf daran schuld wäre. Im Juni veröffentlichte der SV Werder eine Pressemitteilung mit leicht entflammbarem Inhalt: Der zum 1. Juli endende Vertrag mit dem Technischen Direktor Schaaf werde nicht verlängert. In der Mitteilung erweckte Geschäftsführer Frank Baumann den Eindruck, dass dies finanzielle Gründe habe und man sich Schaafs Gehalt nicht mehr leisten könne oder wolle. Den vereinstreuen Schaaf traf das wie der Blitz, er wehrte sich unter anderem im Gespräch mit unserer Deichstube: „Ich bin total baff. Ich kann das überhaupt nicht nachvollziehen. Das kann ich nicht so stehen lassen. Die finanzielle Seite war im Gespräch mit Frank Baumann überhaupt kein Thema.“ Später musste der unter Druck geratene Geschäftsführer in dieser Sache wortreich zurückrudern. Doch Schaaf blieb bei Werder draußen. Dabei war Baumann viele Jahre einer seiner wichtigsten Spieler gewesen.
Eine Aussage von Schaaf aus jenen turbulenten Tagen der Trennung lautete: „Um mich muss sich keiner Sorgen machen, ich werde schon wieder was finden.“
Wie er das gemeint hat, erklärt er heute so: „Damit wollte ich ausdrücken: Ich kann mich um mich selbst kümmern und werde eine Arbeit finden, in der ich mich wiederfinde und die mir Spaß macht. Es sollte nicht heißen: Der hört auf und sucht und braucht jetzt dringend einen Job, damit er wieder auf die Reihe kommt.“

Aus dem Hause WESER-KURIER: Das Magazin "Titel, Typen & Triumphe" über die Ära Schaaf bei Werder Bremen.
Schaaf ließ die Dinge langsam auf sich zukommen und fand sein Glück inzwischen tatsächlich wieder im Fußball. Zum einen wirkt er nun als Mentor für jüngere Trainer, vor allem aber griff der europäische Fußball-Verband Uefa nach Schaafs Trennung von Werder gerne zu und holte ihn als „Technischer Beobachter“ zurück, eine Rolle, die Schaaf in der Vergangenheit schon einmal für die Uefa übernommen hatte. Mitte Dezember analysierte und besprach er in diesem Gremium mit den anderen Beobachtern die Vorrunde der Champions League, unter anderem war Schaaf für das Spiel des FC Liverpool beim AC Mailand zuständig. „Leider nur vor dem Fernseher“, berichtet Schaaf, „wir müssen abwarten, wie sich die Pandemie entwickelt und ob wir im kommenden Jahr wieder in den Stadien präsent sein können.“ Seine Aufgabe beim europäischen Verband ist umfassend, wie er erklärt: „Wir beobachten alle Wettbewerbe der Uefa, neben der Champions League also auch die Europa League, und erstellen einen Bericht über die Entwicklungen des Fußballs, der am Ende der Saison für jeden einsehbar ist.“
Sehr gerne gehe er auch zu Diskussionsrunden, „bei denen es wirklich um inhaltliche Dinge geht, also um den Fußball“, wie er betont. Und wie verfolgt er die Zweitligaspiele von Werder Bremen? „Die schaue ich mir natürlich alle im Fernsehen an“, sagt Schaaf. Rein formal ist er zwar nicht mehr bei Werder, mit dem Herzen aber natürlich schon. Werder ist und bleibt sein Verein.