Auf den ersten Blick wird Werder vom Pech verfolgt, doch bei genauer Betrachtung haben Mannschaft und Trainer gerade eine Menge Glück: Egal, wie schwach die Leistungen zuletzt waren – nach den Spielen gab es andere Themen, die ablenkten. Nach dem 3:3 gegen Heidenheim war es der ärgerliche Freistoßpfiff, der zum Ausgleich führte. Nach dem 0:2 gegen Augsburg war es die zurückgenommene Rote Karte für die Gäste beim Hinfaller von Ducksch. Und beim 2:2 in Dortmund ging es um das zweite Tor des BVB, das wegen Abseits nicht hätte zählen dürfen.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bremer Traditionsvereins wirft, Zusammenhänge erklärt und Entwicklungen einordnet.
Klammert man diese Ereignisse aus, bleiben aus diesen Spielen Bremer Leistungen übrig, über die man lange und sehr grundsätzlich diskutieren kann. Man muss kein kritischer Beobachter sein, um zu fragen: Wenn man in den ersten Spielen des neuen Jahres so enttäuschend agiert hat, wenn man nur einen Punkt geholt und neun Gegentore kassiert hat, wenn man dann gegen einen verstörend wankenden BVB antreten darf – wie kann man dann 60 Minuten so schlecht sein, und das auch noch in Überzahl?
Diese Frage stellen sich Spieler und Trainer auch selbst. Es ehrt Ole Werner einerseits, wenn er nach dem bedenklichen Auftritt in Dortmund offen davon spricht, dass seine Mannschaft lange Zeit so ziemlich gar nichts vom eigentlichen Werder-Plan umgesetzt habe. Andererseits ist die Antwort in solchen Fällen viel wichtiger als die Frage, warum das so war. Es war noch schmeichelhaft vom Sky-Kommentator, als er Werder nach einer Stunde attestierte: „Es ist von ernüchternder Schlichtheit, was sie in der Offensive anbieten.“ Marvin Ducksch fragte später die Reporter, wann der erste Bremer Schuss aufs Tor gewesen wäre. Es war der Traumschuss von Leo Bittencourt nach 65 Minuten, der mit 100 Stundenkilometern zum 1:2-Anschlusstreffer ins Tor rauschte.
Die Gegner provozieren Werders Fehler
Bei ehrlicher Betrachtung gibt es zu den jüngsten Leistungen drei Wahrheiten: eine beruhigende, eine alt bekannte und eine irritierende. Die beruhigende: In vielen Spielen der Hinrunde hat es Werder besser gemacht, mit schnellem Kombinationsspiel, präzisen Flanken und mit einer sehr guten Strafraumbesetzung vor dem gegnerischen Tor. Das machte Spaß und brachte Punkte. Die alt bekannte Wahrheit: Werder hat eine wackelige Abwehr, langsam ist sie obendrein, und es ist mühsam, immer drei oder vier Tore schießen zu müssen, um ein Spiel zu gewinnen. Dieses Problem zu beheben, war schon in den vergangenen Transferperioden eine Aufgabe für den Verein. Gelungen ist es nicht. In diesem Sommer muss sich hier etwas tun, denn inzwischen provozieren selbst schwächere Gegner bewusst Fehler vor der Bremer Abwehr, um dann mit schnellen Angriffen zu einfachen Chancen zu kommen. Heidenheim hätte aus dem Spiel heraus fünf oder sechs Tore erzielen können. Diese Defizite in Werders Defensive bedürfen keiner Analyse mehr, es kann hier nur noch um eine konkurrenzfähige Lösung gehen.
Und nun zur irritierenden dritten Wahrheit: Ein Großteil der Mannschaft ist Wiederholungstäter. Wie sich die Spieler nach Gegentoren oder Großchancen für den Gegner anfauchen, erinnert an eine kritische Phase der Vorsaison: Es war rund um die Niederlage bei Union Berlin in der Rückrunde, einem der schlechtesten und lustlosesten Spiele der jüngeren Vergangenheit. Werder hätte eine Menge erreichen können, die Fans hofften auf den Europapokal. Doch Teile des Teams spielten so emotionslos und gleichgültig, als wäre der Nicht-Abstieg schon genug der Arbeit gewesen. Hinterher kam heraus, dass sich die Spieler danach gewaltig die Meinung gegeigt haben, weil sie nicht mehr alle die gleichen Ziele hatten.
Gegen Mainz wird es sich zeigen
Daran muss man heute erinnern, bevor in der Tabelle noch größerer Schaden entsteht. Der schöne Platz in der oberen Tabellenhälfte ist trügerisch. Wenn Werder so weiterspielt wie zuletzt, wird die untere Tabellenhälfte die neue Umgebung sein. Die internationalen Plätze waren jetzt greifbar, Werder hätte erneut etwas erreichen können – und spielte wieder so, als würde es um nichts mehr gehen.
Eine funktionierende Mannschaft mit gesunder Hierarchie und genügend Qualität regelt es von selbst, wenn ein paar Spieler es zu sehr schleifen lassen. Schon gegen Mainz – das in der Tabelle vor Werder rangiert – wird sich nun zeigen, ob Werder eine solche Mannschaft hat. Letzte Saison fehlten am Ende die drei Punkte aus dem hergeschenkten Union-Spiel, sonst hätte die Mannschaft Geschichte schreiben können. Werder wieder im Europapokal?! Wer das nicht reizvoll genug findet, um in jedem Spiel alles zu geben – der ist bei einem leidenschaftlichen Traditionsverein wie dem SV Werder falsch. Pech hier, Pech da: Damit darf man sich nicht aufhalten. Das nötige Glück muss man schon auch erzwingen.