Bremen. Inklusion, Turbo-Abi, kein Sitzenbleiben mehr – schon vor der Wahl in Niedersachsen haben SPD und Grüne die Bildungspolitik als den Schwerpunkt ihrer künftigen Arbeit bezeichnet. Inzwischen erkennen selbst Experten an, dass die rot-grüne Regierung in dieser Sache ein straffes Tempo vorgelegt hat. Das neue Schuljahr beginnt mit etlichen Veränderungen.
Beginnend mit diesem Schuljahr gilt die Inklusion, die gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit und ohne Handicap, auf breiterer Basis als bisher. Hannover setzt – wenn auch mit einiger Verspätung – die vor fünf Jahren in Kraft getretene Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen um, die in ihrer Gesamtheit nichts weniger vorschreibt als die uneingeschränkte Teilhabe jedes Einzelnen am gesellschaftlichen Leben.
Herausgekommen ist beim Umsetzungskonzept ein Kompromiss, der sich allerdings einige Skepsis gefallen lassen muss. Es werden in Niedersachsen lediglich die Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen für die Klassen eins bis vier abgeschafft. Alle Kinder, sowohl die ohne als auch die mit Förderbedarf werden an Grundschulen künftig gemeinsam unterrichtet. In allen anderen Fällen entscheiden die Eltern, welche Schule ihr Kind besucht – völlig unabhängig davon, ob der Förderbedarf geistige, emotionale oder andere Handicaps betrifft, wie beispielsweise das Sehen oder Hören.
Bereits in der Vergangenheit wurden mehr als die Hälfte der 1800 niedersächsischen Grundschulen sonderpädagogisch unterstützt. Landesweit gab es mehr als 700 Integrationsklassen, in denen fast 2000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpä-
dagogischer Unterstützung unterrichtet wurden. Wegen des zu erwartenden Mehrbedarfs stellt das Land 145 zusätzliche Sonderpädagogen ein. Experten schließen Wetten darauf ab, ob dies reichen wird. Denn Förderschulen mit eigenem Personalbedarf wird es jenseits des Grundschulbereichs weiterhin geben. Sie werden künftig zu Förderzentren, von denen aus Regelschulen bei Bedarf mit Förderpadagogen beschickt werden sollen.
Am Ende geht es um die alte Kunst der optimalen Verteilung knapper Mittel: Ist der Förderbedarf von einem Gremium aus Schule, Eltern, Lehrern und zuständigem Förderzentrum festgestellt, muss die Schule entsprechende Förderstunden beantragen. Entschieden wird darüber in der Landesschulbehörde. Es sollen also diejenigen über den Förderbedarf eines Kindes urteilen, die auch die Verantwortung für das Budget der Förderstunden tragen.
Kündigt sich da ein Zielkonflikt an? "Möglicherweise", sagt Ute Naber, Vorsitzende des Schulleiter-Verbandes Niedersachsen. Im Vordergrund sieht sie allerdings ein anderes Problem. "Es könnte sich am Ende zeigen", sagt sie, "dass wir, auch wenn wir das notwendige Geld auftreiben, nicht so viele Förderpädagogen bekommen, wie wir brauchen, weil es nicht genug dieser ausgebildeten Fachkräfte gibt."
Wieviel ist genug? Die Statistiker des Kultusministeriums in Hannover gehen davon aus, dass rund 35000, also etwa fünf Prozent aller Schülerinnen und Schüler des Landes, einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen. Man werde jetzt erst einmal anfangen und dann sehen, heißt es im Ministerium, "wo wir am Ende noch Stellschrauben nachziehen müssen".
Fragebogen zum Faktencheck Bildung
Wenn Sie sich den schulpolitischen Neustart in Niedersachsen ansehen – was ärgert Sie, was würden Sie anders machen? Schreiben Sie uns bitte möglichst knapp und präzise Ihre Meinung in den Fragebogen zum Faktencheck Bildung unter www.weser-kurier.de/faktencheckbildung
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