Der letzte Redner bekam am meisten Zuspruch: Henri Kennard, Vorstand des Kreisjugendwerks der Arbeiterwohlfahrt, Schüler, 15 Jahre alt. Um das Wohlbefinden seiner Generation ging es an diesem Freitag in einem digitalen Austausch, zu dem Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) eingeladen hatte (wir berichteten). Für den Corona-Kinder-Gipfel waren Vertreter aus Politik und Verwaltung mit Experten aus der Kinder- und Jugendarbeit zusammengekommen. Das zentrale Ergebnis: Um das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen steht es nach anderthalb Jahren Pandemie nicht gut.
Was Kennard als unmittelbar Betroffener erzählte – beispielsweise über die Auswirkungen der sozialen Isolation im Lockdown –, deckte sich in weiten Teilen mit den Berichten der fünf geladenen Experten und Expertinnen. Kinder hätten motorische Fähigkeiten verloren, teilweise die deutsche Sprache verlernt und psychische Störungen entwickelt. Sie seien zunehmend mit Gewichtsproblemen, Ängsten und allen Formen von Gewalt konfrontiert worden. Das ist die nüchterne Zusammenfassung der Expertenmeinungen.
Von einem Ansturm seit Jahresbeginn berichtete Marc Dupont, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Bremen-Ost. "Es kommen mehr Patienten und die Störungsbilder sind schwerwiegender geworden", sagte er. Stefan Trapp, Vorsitzender der Bremer Kinder- und Jugendärzte, gab Einblicke in die tägliche Arbeit seiner Huchtinger Praxis. Kindergartenkinder, die im vergangenen Jahr sprachfähig gewesen seien, seien während der Corona-Pandemie wieder dazu übergegangen, sich mit Pantomime zu verständigen.
Vieles, was sich im Stillstand an Problemen aufgestaut habe, werde jetzt deutlich, sagten mehrere Redner übereinstimmend. Das gelte für häusliche Gewalt, die teilweise erst in den wieder offenen Schulen zutage trete, erklärte Kinderschutzbund-Geschäftsführerin Kathrin Moosdorf. Besonders deutlich kämen Defizite nun auch im Sport zum Vorschein – ein Bereich, "an den der Bund bislang noch nicht wirklich gedacht hat", bemängelte Stahmann. Viele Kinder seien verhaltensauffällig geworden, könnten sich nicht mehr konzentrieren, berichtete Linus Edwards, stellvertretender Geschäftsführer des Landessportbunds und der Bremer Sportjugend.
Neben Sozialsenatorin Stahmann beteiligten sich auch Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) und Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) an der Diskussion. Die vielfältige Besetzung spiegelte sich dann auch in den Appellen wieder: Die Teilnehmer mahnten übereinstimmend an, dass eine ganzheitliche Vorgehensweise notwendig sei, um die Situation der Kinder und Jugendlichen zu verbessern. Stahmann betonte zudem, dass in den vergangenen Monaten viel aus der Perspektive der Erwachsenen gedacht worden sei. "Wir wollen jetzt die Stimmen der Kinder und Jugendlichen hören", sagte sie.
Zu hören war dann Henri Kennard, der schilderte: "Die ersten zwei, drei Monate hatte ich Angst, meinen eigenen Vater zu besuchen. Ich hatte Angst, dass ich ihn anstecke und er ein Pflegefall wird." Er bestätigte auch die Berichte seiner Vorredner aus dem medizinischen Bereich, sprach von Freunden, die gar nicht mehr rausgingen und körperlich verkümmerten. Eine grundsätzliche Lethargie sei erkennbar, die sich nicht so einfach umkehren ließe, berichtete Stefan Kunold, Leiter des Quartiersbildungszentrums Blockdiek. Vor-Ort-Angebote stoßen ihm zufolge teilweise auf Ablehnung bei den Kindern und Jugendlichen. Er bekomme dann die Frage zu hören, ob das nicht online stattfinden könne.
Kunold und weitere Redner machten darauf aufmerksam, dass das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen während der Corona-Pandemie auch eine soziale Frage sei. In den Brennpunkt-Stadtteilen habe der Vater häufig nicht ins Homeoffice wechseln können, sondern sei weiterhin mit dem Bus zur Arbeit gefahren. "Und wenn er dann mit einer Corona-Infektion zurückkam, musste man halt mit vier Leuten in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Quarantäne", sagte Kunold.
Kinder hätten immer wieder zurückstecken müssen, hieß es in der Diskussion wiederholt. "Ich finde, dass die Art und Weise, wie wir die Pandemie in Deutschland bekämpft haben, extrem auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen ausgetragen wurde", urteilte Bogedan. Ein Eindruck, den der 15-jährige Kennard teilt. Er berichtete von großem Druck in der Schule und der ständigen Angst, etwas falsch zu machen. Einhellige Zustimmung fand er mit seinem Appell, verpasste Lerninhalte nicht in den Ferien oder an Wochenenden nachholen zu lassen. Das sei eine "Horrorvorstellung" für ohnehin gestresste Kinder, befand auch Kinderarzt Stefan Trapp.