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"Housing First" Bremer Modellprojekt gegen Obdachlosigkeit erfüllt die Erwartungen

Erst die Wohnung, dann alles andere – so lautet das Motto des Modellprojekts "Housing First". Wie gut lässt sich Obdachlosigkeit in Bremen damit bekämpfen? Die Organisatoren ziehen eine erste Bilanz.
19.10.2022, 05:00 Uhr
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Bremer Modellprojekt gegen Obdachlosigkeit erfüllt die Erwartungen
Von Felix Wendler

Die eigenen vier Wände, egal ob Mietwohnung oder Eigenheim, sind ein Rückzugsort. Etwa 600 Menschen in Bremen haben einen solchen Ort nicht: Sie leben auf der Straße, schlafen unter Brücken, in Hauseingängen oder Notunterkünften. Um die Obdachlosigkeit zu bekämpfen, hat Bremen Anfang des Jahres das Modellprojekt "Housing First" gestartet. Nun ziehen die Organisatoren eine erste Bilanz.

Was bedeutet "Housing First"?

Das Projekt folgt dem Motto: Erst eine Wohnung, dann die weitere Stabilisierung. Ziel ist es, Wohnungslose mit regulären Mietverträgen auszustatten. Die Teilnehmer sollen sich aus einem eigenen, sicheren Umfeld heraus um ihre Probleme kümmern können. "Housing First", das seit einigen Jahren in den USA, im europäischen Ausland und in einigen deutschen Kommunen praktiziert wird, richtet sich auch an Obdachlose mit Suchtproblemen und psychischen Erkrankungen. "Wir wollen so wenig Ausschlusskriterien wie möglich", sagt Anne Blankemeyer, die "Housing First" in Bremen koordiniert. Zur Umsetzung haben sich die Vereine Wohnungshilfe und Hoppenbank zusammengeschlossen. 

Welche Ziele hat Bremen? 

Mindestens 30 Wohnungen wolle man jeweils in diesem und im nächsten Jahr über das Projekt vermitteln, sagt Blankemeyer. Ein Bürgerschaftsbeschluss aus dem Jahr 2019 konzentriert sich bei der Wohnraumbeschaffung vor allem auf sogenannte Belegrechte, die Bremen erwerben soll. Heißt: Die Stadt bietet Vermietern finanzielle Anreize, damit diese Menschen als Mieter berücksichtigen, die auf dem regulären Wohnungsmarkt wenig Chancen haben. Die Vermieter sollen auch gegen eventuelle Beschädigungen der Wohnungen abgesichert werden.

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Wie viele Wohnungen wurden vermittelt?

20 Menschen sind Blankemeyer zufolge in Wohnungen eingezogen, die "Housing First" vermittelt habe. Vier Wohnungen seien bereits vergeben, aber noch nicht bezogen worden – zum Beispiel, weil noch renoviert werden müsse. Sie sei zuversichtlich, dass das Ziel von 30 Wohnungsvermittlungen bis zum Jahresende erreicht werde, erklärt die Projektkoordinatorin. Wichtigste Vermieter seien bislang die Vonovia und die Brebau. Auch die Gewoba stelle einige Wohnungen zur Verfügung. Belegrechte spielen für "Housing First" bislang keine große Rolle: Über diesen Weg seien drei Wohnungen vermittelt worden, heißt es aus der Sozialbehörde, die das Projekt fördert. Insgesamt habe man Belegrechte für 24 Wohnungen angekauft. Diese Wohnungen stünden nicht leer, sondern würden auf anderen Wegen an Menschen vergeben, die auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt seien, sagt Ressortsprecher Bernd Schneider. 

Wie läuft die Vermittlung?

Einige Teilnehmer würden über Streetworker, die Suchthilfe oder gesetzliche Betreuer vermittelt, andere kämen direkt auf sie zu, sagt Blankemeyer. Wichtig sei es, die Bedürfnisse zu ermitteln. Gerade habe man eine junge Frau aufgenommen, die nun zum ersten Mal allein wohne. "Die Frau hat vorher am Bahnhof geschlafen, wo sie immer viel Trubel um sich herum hatte", sagt Blankemeyer. "Für sie wäre das ruhige Altbremer Haus mit drei Parteien wohl nicht so ideal gewesen." Solche Umstände müsse man berücksichtigen. Die Frau, so Blankemeyer, habe eine Wohnung in der Neustadt gefunden – in der Nähe der Diskothek Modernes.

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Was berichten die Teilnehmer?

Viele fühlten sich entlastet, berichtet Blankemeyer. Sie erzählt von einer Frau, die erstmals die Kraft habe, sich um einen Therapieplatz zu kümmern. Ein Mann sei von seinem ehemaligen Arbeitgeber wieder eingestellt worden, nachdem er eine Wohnung gefunden habe. Anderen Projektteilnehmern fiele es schwer, sich an Regeln zu halten – Ärger in der Nachbarschaft sei die Folge. Zwei Mieter hätten eine Abmahnung erhalten. Ihre Wohnung behalten wollten alle Teilnehmer, so Blankemeyer. Diese Erfahrung deckt sich mit den bisherigen Erkenntnissen zum "Housing First": In Berlin haben vier von fünf Teilnehmern eines Pilotprojekts den Wechsel von der Straße in eine Wohnung geschafft.

Welches Fazit ziehen die Organisatoren bisher?

Insgesamt laufe das Projekt zufriedenstellend, erklärt das Sozialressort. Die Ziele würden erreicht, aber Blankemeyer sagt auch: "Das Projekt verbessert die Situation der 30 Menschen, die eine Wohnung bekommen. Mehr aber auch nicht." In diesem Jahr habe sie rund 160 Anfragen bekommen. Die Projektleiterin betont, dass sich der Lebensrhythmus durch die neue Wohnsituation eher selten ändere. Das Programm beinhalte einen wöchentlichen Austausch mit den Teilnehmern – diese Zeit reiche aber in vielen Fällen nicht aus. "Es scheint sinnvoll, die Betreuungszeiten auszuweiten", sagt auch Schneider.

Was kommt nach dem Modellprojekt?

Bis Ende nächsten Jahres läuft das Modellprojekt – eine Verlängerung fände Blankemeyer laut eigener Aussage wünschenswert. "Grundsätzlich sprechen die bisherigen positiven Erfahrungen dafür", sagt auch Schneider. Man müsse jedoch die Bürgerschaftswahl im kommenden Jahr berücksichtigen. "Welche Schwerpunkte eine mögliche neue Koalition dann setzen wird, kann man jetzt natürlich noch nicht sagen." 

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