Am 26. Juni 1993 soll für Jutta Fuchs ein neues Leben beginnen. Die 29-Jährige will mit ihrem zweijährigen Jungen ihren Verlobten verlassen. Die neue Wohnung ist schon eingerichtet, für Sonnabend in aller Frühe ist der Umzug geplant. Doch die Freunde, die ihr dabei helfen wollen, kommen umsonst. Nicht Jutta Fuchs, sondern ihr Verlobter öffnet die Tür. Jutta ist verschwunden, sagt er und knallt ihnen die Tür vor der Nase zu. 25 Jahre später wird der Mann vor Gericht stehen. Angeklagt wegen Mordes. Doch von Jutta Fuchs fehlt bis heute jede Spur.
Am Sonntag, 27. Juni, meldet sich der Verlobte bei der Polizei. Seine Partnerin, Jutta Fuchs, sei verschwunden. Am Freitagabend gegen 22 Uhr habe er sie zuletzt gesehen. Sie wollte mit einer Freundin zum Tanzen in der Gaststätte „Vegesacker Treff“ gehen, erzählt er. Er selbst habe auf das Kind aufgepasst.
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Und der Mann liefert der Polizei auch eine Erklärung: Vermutlich sei sie mit einem anderen durchgebrannt. Doch die Polizei schenkt diesen Aussagen keinen Glauben. Sie geht davon aus, dass die Frau aus Blumenthal Opfer eines Gewaltverbrechens wurde. Die 29-Jährige gilt als zuverlässige Mutter, niemand in ihrem Umfeld kann sich vorstellen, dass sie ihren kleinen Sohn verlassen würde. Auch Hinweise auf Männerbekanntschaften findet die Polizei nicht. Und wer würde abends feiern gehen, in dem Wissen, dass am nächsten Morgen um 7 Uhr die Freunde für den Umzug vor der Tür stehen?
Noch am selben Wochenende findet ein Autofahrer auf einem Rastplatz an der A 27 verstreut herumliegende persönliche Papiere und die Handtasche der Vermissten. Völlig durchnässt, obwohl es tagelang nicht geregnet hatte. Ein Jahr später scheint ein Zufallsfund die Mordthese der Polizei endgültig zu bestätigen – ein Jugendlicher zieht beim Angeln im Tietjensee bei Schwanewede eine mit Steinen beschwerte Tüte aus dem Wasser. Darin finden sich der abgelaufene Reisepass und der Verlobungsring von Jutta Fuchs, dazu Schminkutensilien und ein Damenschuh. Taucher suchen den Teich ab – ohne Erfolg.
Zu diesem Zeitpunkt haben die Ermittler der Polizei längst den Verlobten im Visier. „Von Anfang an hat sich abgezeichnet, dass an seiner Geschichte etwas nicht stimmte“, erinnert sich einer von ihnen im Sommer 2021. Egal ob Familienangehörige, Freunde oder Bekannte – keiner der unmittelbar nach dem Verschwinden von Jutta Fuchs Befragten habe das Bild bestätigt, das er von seiner Verlobten zeichnete.

Jutta Fuchs.
Hinzu kamen weitere Details: Während er selbst von einer einvernehmlichen Trennung sprach, berichtete eine Freundin der 29-Jährigen, dass sie gegen seinen Willen mit ihrem gemeinsamen Kind ausziehen wollte. Merkwürdig sei auch gewesen, dass er schon am Montag bei seiner Vernehmung mit Anwalt anrückte und die Aussage verweigerte. „Es gab eine Kette von Indizien und die Motivlage war klar zu erkennen. Wir haben wirklich geglaubt, wir kennen den Täter“, erzählt der Ermittler von damals. 25 Jahre später werden die Anwälte des Verdächtigen davon sprechen, dass die Polizei nicht ergebnisoffen ermittelt hätte, sondern von Beginn an einseitig. Und oberflächlich und lückenhaft noch dazu.
Die Polizei hat durchaus konkrete Anhaltspunkte. Ein auffälliger roter Fleck auf dem Wohnzimmerteppich, der Revolver des Vaters des Verdächtigen, der zeitgleich mit Jutta Fuchs verschwand, ein Hinweis auf ein Segelboot in Bremerhaven, eine Fußmatte, die mitten in der Nacht gekärchert worden sein soll. Doch wirkliche Beweise findet die Spurensicherung nicht. Später werden am Wagen des Verlobten sogar Leichenhunde anschlagen. Für die Polizei ein Indiz, dass mit dem Fahrzeug Tote transportiert wurden. Doch ohne die Leiche der Frau nutzt auch dies nichts. Jutta Fuchs verschwindet in der Vermisstenakte, der Fall wird zum Cold Case. „Frustrierend“, bringt der inzwischen pensionierte Polizist sein Gefühl damals auf den Punkt. „Bis heute.“
2005 nimmt die Polizei den alten Fall vor dem Hintergrund der weiterentwickelten Technik wieder auf. Immer noch ist der Verlobte Dreh- und Angelpunkt. Eine Prämisse der Polizei setzt den Rahmen für die Ermittlungen: Wenn er es war, hatte er nicht viel Zeit, um die Leiche verschwinden zu lassen. Zwischen dem vermuteten Mordzeitpunkt gegen 23 Uhr und 7 Uhr morgens, als er den zum Umzug angerückten Freunden die Tür öffnete, lagen acht Stunden. In denen er noch dazu auf seinen Sohn aufpassen musste. Deshalb fokussiert sich die Suche auf das nähere Wohnumfeld des Verdächtigen.
Mithilfe eines Tauchroboters und eines Sonars, das ein zweidimensionales Grundprofil vom Boden eines Sees erstellt, werden im Norden Bremens erneut Gewässer abgesucht. Im Oktober 2006 wird der Betonboden eines Betriebshofes in Rönnebeck per Bodenradar gescannt. Die Mordermittler hatten herausgefunden, dass es im Juni 1993 in der Nachbarschaft des Wohnortes von Jutta Fuchs eine Baustelle gab. Ein Unternehmen hatte dort einen Hof zum Waschen und Betanken seiner Fahrzeuge gebaut. Und die mit Kies und Sand gefüllte Grube lag mehrere Tage lang offen, bevor sie mit Spezialbeton abgedichtet wurde...
Zentimeter für Zentimeter wird die 140 Quadratmeter große Fläche abgesucht. Das Georadar, sonst im Straßenbau zum Auffinden von Leitungen und anderen Hindernissen eingesetzt, kann Materialien mithilfe von elektromagnetischen Wellen in mehreren Meter Tiefe erfassen. Aber keine Spur von Jutta Fuchs.
Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ griff Fall 2008 auf
Wieder eineinhalb Jahre später greift im April 2008 die Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ den Fall auf. Daraufhin meldet sich ein Polizeibeamter. Da gab es doch auf dem Grundstück in Farge hinter dem Wohnhaus, in das Jutta Fuchs einziehen wollte, so eine Sickergrube... Der gut sieben Meter tiefe Schacht war inzwischen mit Sand und Erde aufgefüllt. In der Hoffnung, auf Knochen zu stoßen, lassen die Ermittler die Grube ausspülen und das Wasser sieben. Doch wieder bleibt die Suche vergebens.
Auch das Telefon des Verdächtigen wird zwischenzeitlich überwacht. Aber für einen hinreichenden Tatverdacht gegen den Verlobten von Jutta Fuchs reichen all diese polizeilichen Ermittlungen nicht. Und damit auch nicht für eine Anklage vor Gericht.
Erst fünf Jahre später, im Dezember 2013, entschließt sich die Staatsanwaltschaft zu diesem Schritt. Sie will die nach 20 Jahren drohende Verjährung eines Totschlags verhindern, denn auch darum könnte es gehen. Doch dem Landgericht ist die Beweislage zu dünn, sie lehnt die Eröffnung des Verfahrens ab. Dagegen wiederum legt die Staatsanwaltschaft mit Erfolg Beschwerde ein. Trotzdem dauert es, bis der Mann vor Gericht steht. Denn für einen „dringenden Tatverdacht“ hatte es auch 2016 bei der Eröffnung des Prozesses nicht gereicht. Der aber wäre notwendig gewesen, um einen internationalen Haftbefehl gegen den Verdächtigen zu erwirken, der zu dieser Zeit in London vermutet wird. Und so ist es dann beim Prozessauftakt im Oktober 2017 nicht nur ein Mordprozess ohne Leiche, sondern auch einer ohne Angeklagten. Nach einer halben Stunde wird das Verfahren ausgesetzt.
Am 13. August 2018 ist es dann tatsächlich so weit: Ein Vierteljahrhundert nach dem Verschwinden von Jutta Fuchs steht ihr wieder aufgetauchter damaliger Verlobter wegen Mordes angeklagt vor dem Landgericht Bremen. Die Prozessankündigung zeigt, auf welch wackeligen Beinen die Anklage steht: Der inzwischen 58-Jährige soll seine Lebensgefährtin „zu einem nicht exakt bestimmbaren Zeitpunkt“, auf eine „nicht feststellbare Weise getötet“ und an „einem bis heute nicht bekannten Ort“ verborgen haben.
Der Angeklagte wird vor Gericht nur einen Satz sagen: „Ich bin unschuldig.“ Danach schweigt er. Und auch sein Vater und sein inzwischen erwachsener Sohn machen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Was folgt, ist der mühsame Versuch der Staatsanwaltschaft, mit Hilfe von Zeugenaussagen zu rekonstruieren, was sich am Abend des 25. Juni 1993 zugetragen hat – Freundinnen und Bekannte von Jutta Fuchs, Polizeibeamte, Mitarbeiter und Gäste aus dem „Vegesacker Treff“.
Doch die Indizienkette, die zur Anklage führte, hält vor Gericht nicht stand. Der verdächtige rote Fleck – Ketchup. Die gekärcherte Fußmatte – nicht mehr aufzufinden. Der verschwundene Revolver des Vaters – angeblich schon zwei Jahre vorher bei einem Einbruch gestohlen. Die Hunde, die sowohl 1994 als auch 2014 bei Ermittlungen am Kofferraum eines Firmenwagens des Angeklagten angeschlagen hatten – ohne Belang. Als sie anschlugen, gehörte ihm der Wagen schon nicht mehr. Er hatte ihn an eine Altenpflegerin verkauft. Die aber hatte im Kofferraum häufig die Bekleidung gerade verstorbener Heimbewohner transportiert.
Schließlich bricht auch die Kernthese der Staatsanwaltschaft zusammen, dass Jutta Fuchs am Abend ihres Verschwindens das Haus nicht mehr verlassen hat. Vor Gericht sind sich zwei Zeugen nun doch sicher, die 29-Jährige an jenem Abend im Schankraum des „Vegesacker Treffs“ gesehen zu haben. Sie könnte also in dem Lokal auf einen unbekannten Dritten getroffen sein, der sie später umgebracht hat. Zumindest ist dies nicht mehr auszuschließen.

35 Millionen Liter Wasser wurden aus dem See abgepumpt. Doch Beweise für den Mord an Jutta Fuchs wurden nicht gefunden.
Dann zieht die Staatsanwaltschaft ihren letzten Pfeil aus dem Köcher: Sie beantragt das erneue Absuchen des Tietjensees, des kleinen Teichs am Weserdeich in der Nähe von Schwanewede, aus dem 1994 ein Jugendlicher die Plastiktüte mit persönlichen Gegenständen von Jutta Fuchs geangelt hatte. Zwar hatten Taucher den Teich im Laufe der Ermittlungen schon mehrfach durchsucht, nun aber sollte er komplett abgepumpt werden. Wegen der Schlickablagerungen und der trüben Sicht sei nicht auszuschließen, dass sich doch etwas Tatrelevantes in dem See befände, argumentiert die Anklagebehörde.
Kopfschütteln bei der Verteidigung: Wozu dieser Riesenaufwand, noch dazu nach 25 Jahren? Das Ganze sei nicht mehr als ein letztes verzweifeltes Aufbäumen der Ermittlungsbehörden. Aber die Staatsanwaltschaft lässt sich nicht beirren. „Nichts soll unversucht bleiben, das sind wir Jutta Fuchs und ihren Angehörigen schuldig.“
Im Oktober 2018 beginnt das Abpumpen von geschätzt 35 Millionen Liter Wasser. Wochenlang wird anschließend der freigelegte Grund des Sees abgesucht. Auch sogenannte Kadaverhunde kommen dabei zum Einsatz. Und wo die Schlammschicht zu dick für die Nase der Tiere ist, wird per Hand gesucht. Ohne Erfolg: Jede Menge Schrott wird gefunden, aber keine Leiche, keine Knochen und auch keine Tatwaffe. „Nach unserer Einschätzung gibt es in diesem See keine Beweismittel mehr“, sagt der Ermittlungsführer der Polizei Anfang November und beendet damit praktisch den Prozess. Eine Woche später plädieren nicht nur die Anwälte des Angeklagten auf Freispruch, sondern auch die Staatsanwaltschaft.
Am 20. November 2018 wird der Angeklagte freigesprochen. „Wir haben es nicht geschafft, herauszufinden, was mit Jutta Fuchs passiert ist. Das tut uns leid“, sagt der Vorsitzende Richter in Richtung der Angehörigen der verschwundenen Frau. „Aber wir haben es wenigstens versucht.“