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Neun-Euro-Ticket Das Sylt-Experiment

Das Neun-Euro-Ticket ist da – und plötzlich reden alle über Sylt. Steht der Insel das große Chaos bevor? Unser Autor hat sich auf den Weg gemacht.
04.06.2022, 19:00 Uhr
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Das Sylt-Experiment
Von Fabian Dombrowski

Da ist er also doch, der Hinweis, dass etwas anders ist als sonst, und er kommt ganz bürokratisch daher, im feinsten Bahn-Sprech. Wegen erhöhten Fahrgastaufkommens hätten einige Züge Verspätung, knistert es am Freitagabend aus den Lautsprechern des Bahnhofs Westerland, Sylt. Doch hört man sich auf der Insel um, zeigen sich Hotels und Gastronomen recht entspannt. Der Ansturm vor den Pfingstfeiertagen sei üblich, Neun-Euro-Ticket hin oder her.

Viel war in den vergangenen Tagen und Wochen geschrieben worden über dieses ÖPNV-Experiment. Für nur neun Euro im Monat lässt es sich noch bis einschließlich August im Nahverkehr quer durch Deutschland reisen. Und plötzlich gerät auch die Insel Sylt in den Fokus. Zunächst nur, weil die Insulaner ihre Sorge äußerten, dass die bereits jetzt schon überlastete Bahn nach Sylt durch die zusätzlichen Gäste an ihre Kapazitätsgrenze stoßen würde. Dann jedoch verselbstständigte sich das alles, in guter bewährter Social-Media-Manier. Linke Gruppen riefen dazu auf, die Insel zu stürmen, auf einmal war von „Chaostagen“ die Rede. „Manches ist offensichtlich nicht so rübergekommen, wie es gemeint war, darauf werden wir in Zukunft achten“, sagte der Geschäftsführer der Sylt Marketing GmbH, Moritz Luft, dazu. Sylt als inselgewordener Running Gag.

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Am Freitag vor Pfingsten, dem Beginn des ersten langen Wochenendes mit Neun-Euro-Ticket, ist von Chaos jedenfalls noch nicht allzu viel zu spüren. Die Fahrt vom Bremer Hauptbahnhof beginnt um 9.19 Uhr mit einer Gleisänderung, nichts Außergewöhnliches. Aus einem Lautsprecher, die an einer Männerschulter hängt, grölt Mickie Krause. Also doch schon jemand in Urlaubsstimmung. Ansonsten Alltag in der Regionalbahn nach Hamburg: Tageszeitungen rascheln, Brötchentüten knistern, Babys schreien, Mütter beruhigen.

Lieder und Bücher über Sylt

Ein 22-Jähriger aus Konstanz reist nach Stade, wo er seinen neuen Opel abholen wird. So erzählt er es den drei akkurat Gestylten, die sich zu ihm in den Viererplatz mit Tisch gesellt haben. Einer der drei wird nächstes Jahr in Valencia heiraten, heute wollen sie Anzüge für ihn aussuchen. „Der erste Tag soll pompöser werden, der zweite Tag eher leger“, erläutert der baldige Bräutigam seine Hochzeitsvorstellungen. Während des Gesprächs füllen die drei Single Malt Whiskey in ihre Flachmänner, um 9.45 Uhr der erste Schluck. 

Sylt, das Reiseziel: mit knapp hundert Quadratkilometern Fläche und rund 21.000 Einwohnern Deutschlands größte Nordseeinsel. Ist zu einem Drittel mit Dünen bedeckt. Die Zahl der Gäste hat sich in den vergangenen 30 Jahren fast verdoppelt: von knapp 522.000 im Jahr 1990 auf etwa 961.000 im Jahr 2019. Die Band Die Ärzte haben der Insel eine Pop-Hymne gewidmet, der ehemalige Publizist Fritz J. Raddatz ein ganzes Buch. Und in Christian Krachts Roman „Faserland“ startet der schnöselige Ich-Erzähler seine Deutschlandreise auf Sylt, mit Barbour-Jacke und einem Fischbrötchen von Gosch. Aber noch ohne Neun-Euro-Ticket.

Von Bremen nach Sylt dauert es zwischen vier und fünf Stunden, der erste Umstieg ist am Hamburger Hauptbahnhof. Dort steht der Anschlusszug in Richtung Kiel schon bereit, mehr als eine halbe Stunde vor Abfahrt. Als wollte die Deutsche Bahn an diesem viel beachteten Wochenende beweisen, dass das gebetsmühlenartig vorgetragene Geschimpfe über Verspätungen völlig haltlos sei. Erhöhtes Fahrgastaufkommen ist ebenfalls noch nicht in Sicht, darüber wundern sich auch Irmgard und Karin, die sich mit sechs weiteren Seniorinnen einen netten Tag in Eckernförde machen wollen. „Vielleicht traut sich jetzt niemand mehr zu fahren, weil alle denken, dass es so voll wird“, vermutet Karin. „Oder der große Ansturm kommt erst noch.“ Sie soll recht behalten. Schon einen Tag später können die Regionalbahnen etwa in Berlin oder Hamburg wegen Überfüllung teils nicht losfahren.

Insel der Reichen und Schönen?

Dass die Linken, die Punks, nun angeblich die Insel stürmen wollen, erinnert an eine ähnliche Aktion Mitte der 1990er-Jahre, als Autonome dazu aufgerufen hatten, mit dem damals neuen 15-Mark-Wochenend-Ticket dorthin zu fahren und „Chaos“ zu verbreiten. Mehrere Dutzend Randalierer wurden an einem Wochenende im März 1995 am Bahnhof Westerland festgenommen. Droht 25 Jahre später Ähnliches wieder? Sylt eilt offenbar immer noch der Ruf voraus, vor allem den Reichen und Schönen zu gehören. Vielleicht ist der Ruf leiser geworden, aber immer noch laut genug, um den Punks als Feindbild zu dienen.

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Sylt selbst wehrt sich – natürlich – gegen dieses einseitige Image. So schrieb Ole König aus dem Vorstand der „Sylter Unternehmer“ neulich in der „Zeit“: „Jene, die uns heimsuchen wollen, haben falsche Vorstellungen von Sylt. Das hier ist kein Reichen-Zoo, in dem Millionäre und Milliardäre herumstolzieren!“ Hinzugekommen sind in den vergangenen 25 Jahren allerdings die sozialen Medien und Nachrichtendienste (Twitter, Telegram, Discord), in denen dieser ironisch gefütterte Sylt-Hype plötzlich Wellen schlagen kann.

Gegen zwölf Uhr der zweite Umstieg in Elmshorn. Wie aufgereiht an einer Perlenkette warten die Fahrgäste auf den Zug nach Westerland. Darunter auch Bärbel Lux aus Hannover, die mit ihrer Schwester noch „last minute“ eine Unterkunft bekommen hat. Drei- bis viermal im Jahr würden sie auf die Insel fahren. „Ich glaube nicht, dass das Neun-Euro-Ticket auf dieser Strecke schon viel ausmacht“, sagt sie, die Strecke sei bisher noch „normal voll“.

Im Zug können die meisten denn auch noch einen Sitzplatz ergattern, nur wenige müssen stehen. Unter den Fahrgästen sind viele junge Leute, wie etwa Ben Ebner und Isabell Born aus Wuppertal, beide 21 Jahre alt. „Ist nur Zufall, dass wir auch mit dem Neun-Euro-Ticket hier sind. Wir hatten die Reise schon vorher geplant“, erklärt Ben, dessen Schwester auf Sylt wohnt. Das hört man unter den Passagieren öfter, und beinahe klingt es wie eine Rechtfertigung: dass die Reise nach Sylt schon lange festgestanden habe und dann, praktischerweise, noch das Ticket-Schnäppchen dazwischen gekommen sei. So ähnlich erzählt es auch Frauke Jakobi aus Elmshorn, die gerade noch im Zug ihre Freundin sucht, Wagen 11, in welcher Richtung der denn wohl sei.

Lunden, Niebüll, Klanxbüll, Morsum

Bevor die Reisenden ihr Ziel erreichen, macht der Zug noch Halt in Lunden, Niebüll, Klanxbüll oder Morsum. Das Unbekannte und Neue einer Umgebung spiegelt sich auch häufig in den Ortsnamen wider.  Allein der Name Sylt. Wobei die Sylter selbst ihre Insel „Söl“ nennen, wie die Internetseite „Sylt-Travel“ verrät. Dort erfährt der inselinteressierte Leser auch, dass gar nicht bekannt sei, was der Name ursprünglich einmal bedeutete: vielleicht Schwelle, vielleicht Toteninsel, vielleicht auch Hering.

Und schließlich das, was die „Süddeutsche Zeitung“ vor einigen Tagen beschreibt als „Nabelschnur zwischen dem Kosmos Sylt und dem Rest der Welt“: der Hindenburgdamm, die Marschbahn durchs Watt. Beim Blick aus dem Fenster scheint alles in klaren Linien aufeinander zuzulaufen: die Schienen, das sich in der Ferne wieder ankündigende Meer, der strahlend blaue Horizont. Fast wirkt es, als würde hier gar keine Zivilisation mehr folgen.

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Kurz vor der ersehnten Ankunft doch noch ein kurzer Schreck: Die Weiterfahrt wird sich um zehn Minuten verzögern. Im Theater wäre dies wohl das verlangsamende Moment – jener Akt eines Stücks kurz vor Schluss, in dem nichts passiert, was die Handlung voranbringt, sondern der alleine dazu dient, das Spannungsgefühl beim Publikum zu erhöhen. „So kurz vorm Ziel, wie immer“, sagt ein Mann und setzt sich noch mal hin. Ganz ohne Bahnbeschimpfe geht es also doch nicht.

Zum Meer

Dann aber wirklich. Der Zug fährt ein, es geht auf halb drei zu, Taschen werden hervorgekramt, es staut sich beim Ausstieg. Der Fluss der Menschen tröpfelt aus den Zugtüren, schwillt auf dem Bahnsteig zu einem Strom an und zerfließt spätestens auf dem Bahnhofsvorplatz. Lieber kurz noch mal aufs Schild geschaut, ob es wirklich der Ort ist, an den man wollte, und ja, da sieht man sie, die Punks, die sich lautstark gegenseitig in Empfang nehmen.

Sie campieren auch in der Fußgängerzone vor einem Supermarkt, und da ist es wieder, das Gefühl, dass doch etwas anders ist. Man läuft weiter über die Friedrichstraße, vorbei an Cafés, Hotels, Wurstständen und Fisch-Gosch, und nach Chaos sieht das hier alles nicht aus. Am Ende der Straße, man ahnt es schon, öffnet sich schließlich das Panorama, das Meer glitzert verheißungsvoll unter blauem Himmel, die Menschen flanieren an der Promenade. Vielleicht wollen alle doch einfach nur zum Meer.

Denn Meer beruhigt.

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