Früher malte Pia gerne Herzen, jetzt schreibt sie lieber auf Englisch, wen sie mag: „I love you.“ Der Satz steht auf Bildern, die sie zeichnet, auf Briefen, die sie schreibt – und auf einem metergroßen Stofftuch, das neuerdings an der Wand im Schlafzimmer der Eltern hängt. Ihre Mutter hat darauf etwas anderes geschrieben: „Schön, dass du wieder zu Hause bist.“ Das Ö ist eine Sonne mit bunten Strahlen. Doris Laatz sagt, dass ihr Mann wieder lächeln soll. Und dass sie nicht noch einmal so lange von ihm getrennt sein will, wie sie es jetzt war.
Sie hat die Tage gezählt. Es waren 75. Auch das steht auf dem Tuch. Gleich hinter der Zahl folgen die Wörter „nie wieder“ mit Ausrufezeichen. Tobias Laatz kam in die Klinik, von der Klinik in ein Altenheim, vom Altenheim in eine andere Klinik. Rechnet Doris Laatz die Monate zusammen, in denen ihr Mann in diesem Jahr stationär behandelt wurde, kommt sie auf vier: „Er war öfter weg als bei der Familie.“ Doris Laatz, 29, blondes Haar, schlank, sagt das so, als sei ihr das in diesem Moment erst bewusst geworden. Sie sagt es fragend.
Tobias Laatz konnte nicht nach Hause, weil er erst akute Atemnot bekam, später eine Lungenentzündung. Und weil das Pflegeteam, das ihn bisher in der Wohnung betreute, kurz zuvor gekündigt hatte. Keine Fachkräfte, keine Rückkehr zur Familie: Das Risiko war den Ärzten zu groß. Darum kam Tobias Laatz, 35, drei Kinder, vorübergehend ins Altenheim. Zu dieser Zeit suchte seine Frau seit fast zwei Monaten nach neuen Fachkräften. Am Ende brauchte sie 89 Tage, um welche zu finden. Diese Zahl steht nicht auf dem Stofftuch.
Die Pflege
Er kann es vom Bett aus sehen. „E-n-d-l-i-c-h z-u H-a-u-s-e.“ Sein Sprachcomputer sagt die Wörter wie jedes andere Wort: emotionslos. Die Stimme und der Ausdruck in seinem Gesicht passen nicht zusammen. Tobias Laatz lächelt. Am Tag seiner Ankunft hat er geweint. Stefanie Bittner sagt, dass sie das nie vergessen wird. Weder den Moment, als sich die Türen des Krankenwagens öffneten, noch den Augenblick, als mehrere Männer ihn in die Wohnung trugen. Bittner ist, wenn man so will, das Team, das Doris Laatz monatelang gesucht hat.
Oder der Anfang von einem Team. Der Pflegedienst, für den Bittner arbeitet, will mehr Personal schicken, sobald mehr Personal frei ist. Wann das sein wird, weiß sie nicht: „Vielleicht in zwei Wochen, vielleicht in einem Monat.“ Bis dahin wird Bittner so oft kommen, wie es ihr Dienstplan vorsieht. In dieser Woche ist sie zweimal für zwölf Stunden da, in der nächsten dreimal. Sie sagt, dass das nur ein Provisorium ist. Dass Doris Laatz mehr Hilfe und ihr Mann mehr Menschen braucht als zwei, um ihn so zu pflegen, wie es erforderlich ist: permanent.
Bittner, 33, schwarzes Haar, Piercing, überwacht die Technik, die Tobias Laatz am Leben hält – und macht, was die Apparate und er nicht können. Jetzt verscheucht sie Fliegen, die sich auf seine Stirn und seine Arme setzen wollen. Später wird sie ihm immer und immer wieder sagen, dass sie es nicht zulässt, dass ihm etwas passiert. Sie wird dabei seine Hand halten. Und sie wird ihm in die weit aufgerissenen Augen schauen. Panik. Die Attacken kommen jetzt öfter. Bittner sagt, dass jeder Mensch sie bekommt, der ALS hat.
Amyotrophe Lateralsklerose – wer an ihr erkrankt, verliert die Kontrolle über seinen Körper. Alle Muskeln versagen: erst in den Beinen und Armen, dann in den Händen und Füßen, später im Hals, im Gesicht und in der Lunge. Nur das Herz schlägt immer weiter. Es ist der einzige Muskel, den die Krankheit nicht schädigt. Überwacht wird er trotzdem. Bittner schaut auf einen Monitor, auf dem eine Zahl leuchtet: 61. So oft schlägt gerade sein Herz pro Minute. Die Intensivpflegerin nickt. Alles in Ordnung. Bei Panikattacken ist der Wert doppelt, manchmal dreimal so hoch.
Tobias Laatz hat Angst davor zu ersticken. Inzwischen ist sie so groß, dass sich Stefanie Bittner und Doris Laatz beeilen, wenn sie an der Kanüle in seinem Hals den Aufsatz wechseln – und ihn so lange von der Maschine trennen müssen, die ihn beatmet. Vor Wochen hat Tobias Laatz immer mal wieder das Luftholen ohne Technik geübt, weil er befürchtete, seine Lunge könnte schneller schwächer werden, wenn sie nicht gefordert wird. Er schüttelt den Kopf. Er trainiert nicht mehr: „M-i-t d-e-r M-a-s-c-h-i-n-e i-s-t e-s s-i-c-h-e-r-e-r.“
Bittner fordert ihn dennoch. Sie will, dass er öfter das Gerät benutzt, das bei ihm einen Husten simuliert, weil er allein nicht mehr husten kann. Sie will, dass er häufiger über die Kanüle inhaliert, um seine Bronchien länger frei zu halten. Und sie will, dass sich seine Lage im Bett regelmäßiger ändert, fünfmal am Tag, dreimal in der Nacht – „mindestens“. Tobias Laatz liegt am liebsten auf dem Rücken. Bittner weiß, dass er so weniger Schmerzen hat. Sie sieht aber auch, was Tobias Laatz nicht sehen kann: Seine Haut auf dem Rücken verfärbt sich. Er beginnt, sich wund zu liegen.
Die Protokolle
Braucht er gerade keine Hilfe, schreibt Bittner auf, was sie gemacht und an Medikamenten gegeben hat. Alles wird protokolliert: Uhrzeit, Dosis, wie viel Tobias Laatz schläft, welche Beschwerden er hat, wann, wie stark, wie lange. Die Berichte, sagt sie, sind wichtig, damit andere Pflegekräfte nachlesen können, was war. Und weil es andere Kräfte noch nicht gibt, dokumentiert Bittner für Bittner – und für Doris Laatz. Sie liest, was die andere schreibt, um zu wissen, was sie weiß.
Am Nachmittag stehen die Frauen in der Küche, um sich zu beraten. Das machen sie öfter. Diesmal geht es um die Panikattacken von Tobias Laatz und wie man ihnen begegnen könnte. Bittner sagt, dass er jemanden zum Reden braucht – keine Intensivpflegerin, keine Ehefrau, sondern einen Psychotherapeuten. Doris Laatz nickt.
Die Frauen duzen sich vom ersten Tag an. Im Februar begegneten sie sich das erste Mal. Stefanie Bittner gehörte zum Pflegedienst, der gekündigt hat – und sie danach dem Pflegedienst. Doris Laatz sagt, dass Bittner ein Glücksfall ist. Auch die Pflegerin redet so. Sie spricht von den Kindern, die mit ihr umgehen, als sei sie die Tante. Von Tobias Laatz, dem sie erklärte, lieber nachts zu arbeiten – und er den Computer sagen ließ: „D-a-n-n m-a-c-h-e-n w-i-r d-i-e Z-i-m-m-e-r d-u-n-k-e-l.“
Familienanschluss – Bittner sagt, dass es ihn nicht immer gibt. Sie weiß, wie schwierig es für Angehörige sein kann, sich daran zu gewöhnen, dass noch jemand in der Wohnung ist, der eigentlich nicht dazugehört. Und was es bedeutet, eine Fremde zu sein und manchmal auch zu bleiben. Bei Tobias und Doris Laatz war sie das nie, sondern gleich die Steffi. Für Bittner ist Doris Laatz eine Teamgefährtin. Doris Laatz nennt sie anders: Freundin.
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