Einen Moment noch. Ein Kollege muss her. Ein Kollege, der mit dem Smartphone den großen Augenblick im Bild festhält. Clyde Blase soll geimpft werden. Den Ärmel seines T-Shirts hat er hochgekrempelt, DRK-Mitarbeiterin Kimberly Breitenbach hat die Spritze mit der Dosis von Johnson & Johnson aufgezogen. Könnte also losgehen. „One moment“, einen Moment, ruft Blase. Tatsächlich dauert es nicht lange, dann ist ein Kollege mit Handy zur Stelle. Ein Piks, ein Schnappschuss, ein Pflaster. Clyde Blase ist geimpft. Die Maske vor dem Mund kann das breite Grinsen nicht verdecken.
Clyde Blase ist Seemann. Nach Schätzungen der Internationalen Schifffahrtskammer ICS sind nur 2,5 Prozent von ihnen geimpft. Schlimmer noch: Seitdem Corona die Welt im Griff hat, haben viele von ihnen die Schiffe, auf denen sie angeheuert haben, nicht mehr verlassen. Die Schifffahrtskammer geht aktuell von 100.000 Seeleuten aus, die festsitzen. Clyde Blase ist seit neun Monaten an Bord der „Brilliant Journey“, einem Frachter unter panamaischer Flagge, der an diesem Tag am Weserport-Terminal 3 Erz aus Mauretanien ablädt. Keinen Fuß habe er seit einem dreiviertel Jahr mehr an Land gesetzt, sagt Blase.
Magnus Deppe hört solche Geschichten Tag für Tag. Deppe ist Leiter der Bremer Seemannsmission. „Es ist hart, was diese Männer seit Corona durchmachen müssen“, sagt Deppe, "als hätte man sie vergessen." Seit Jahr und Tag besuchen er und sein Team die Schiffe, die in Bremens Häfen anlegen. Deppe und Kollegen bringen Süßigkeiten, verteilen Zeitungen, schnacken mit der Besatzung, mit anderen Worten: Sie helfen und bringen Abwechslung in den sehr monotonen Alltag der Seefahrer, seit Corona erst recht.
Viele Reeder und Kapitäne wollen nicht, dass ihre Männer das Schiff verlassen, zu groß die Gefahr, dass sie sich an Land infizieren, zu groß auch die Angst der Männer selbst, dass sie das Virus aufs Schiff bringen und die komplette Crew ausfällt. Viele Reedereien, so erzählen es die Helfer der Seemannsmission, täten von sich aus wenig, um die Mannschaften zu schützen. Impfangebote machen nur die wenigsten. „Umso wichtiger, dass Bremen es tut“, sagt Deppe.
Entsprechend groß ist die Aufregung heute. Am frühen Morgen hatte die Seemannsmission Kontakt zum Kapitän aufgenommen, für die Mittagszeit wird das große Impfen terminiert. Die komplette Crew, 20 Mann, alle von den Philippinen, soll geimpft werden. Doch daraus wird erst einmal nichts. Die Port State Control setzt unangekündigt eine Brandschutzübung an. Aber im Improvisieren sind die Bremer Meister, fast 700 Impfungen haben Gesundheitsressort, DRK und Seemannsmission auf Schiffen schon durchgeführt.
Und dann geht’s los. Clyde Blase ist als Erster an der Reihe. Er sitzt auf einem Stuhl im Salon. Sonst hocken die Männer hier beisammen, schauen fern, hören Musik und feiern. Der Teppichboden ist fleckig, Reste von Girlanden kleben noch an der Decke. Der Mikrofonständer fürs Karaokesingen ist zur Seite geschoben. Vor ein paar Tagen haben sie hier noch internationale Hits geschmettert. Jetzt ist das komplette Deck zum Impfzentrum umgewandelt.
Im Mannschaftsraum füllen die Männer den Fragebogen zur Impfung aus. Im Salon gibt es die Spritze. Vor der Tür stehen die Männer Schlange, sie können es kaum erwarten. Am Eingang zum Salon führen die beiden Ärzte, Karen Jürgens und Cemsid Kiy, die Aufklärungsgespräche. In der Sitzecke, auf einem lindgrünen Sofa unter einem gemalten Alpenpanorama, haben zwei weitere DRK-Mitarbeiterinnen die Technik aufgebaut. Laptop für die Daten, Drucker zum Ausdrucken der Impfnachweise.
Auch das gelbe Impfheftchen wird verteilt. Es könnte Gold wert sein. Vielleicht ist der Landgang als Geimpfter bald wieder eine Selbstverständlichkeit. Gut tun würde es den Männern vermutlich. Seelsorger Deppe berichtet von Gesprächen mit Seeleuten, denen die lange Zeit an Bord sehr zugesetzt hat. Er erzählt von Spannungen innerhalb der Crews, „viele verschiedene Mentalitäten, Essgewohnheiten, Religionen, Sprachen“, alles auf engstem Raum, „das strapaziert die Nerven“.
Gewerkschaften berichten von Depressionen und Suizidgedanken bei Crewmitgliedern, die UN spricht von einer „humanitären Krise auf See“. Deshalb sind Deppe und seine Mitstreiter auch ein bisschen stolz, dass sie, dass Bremen vielleicht ein wenig zur Linderung beitragen. Clyde Blase jedenfalls ist „happy“, wie er sagt, und sehr dankbar. Jetzt ist er geimpft, und das Beste kommt ja noch: In einigen Tagen schon darf er zurück zu seiner Familie fliegen.