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Bremer Philharmoniker Großes Ohrenkino von John Adams

Die Bremer Philharmoniker spielten drei Werke voll raffinierter Klangfarben und bildhafter Musik. John Adams' "Harmonielehre" wurde enthusiastisch gefeiert, ebenso Pianistin Tamara Stefanovich bei Ravel.
19.12.2023, 15:45 Uhr
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Von Sebastian Loskant

Es gebe Komponisten, die könnten die Tinte nicht halten, soll Theodor W. Adorno mal geschimpft haben. Das war auf Jean Sibelius und dessen weitschweifige freie Formen gemünzt, doch was hätte der 1969 gestorbene Musikphilosoph wohl über die Meister der Minimal Music gesagt? Über John Adams etwa und seine 40-minütige "Harmonielehre" von 1985, die ihre Spannung aus dem ausdauernden Pulsieren kleinster Motive bezieht und sich dabei selbstbewusst auf Adornos Idol Arnold Schönberg beruft?

Der Hörer von heute ist entspannter. Er sucht nicht immer nach einer Struktur wie bei Beethoven, sondern genießt auch einfach das Zusammenspiel von Klangflächen als pures Ohrenkino. Dirigent Marko Letonja hatte für das 5. Philharmonische Konzert in der Glocke drei Werke zusammengestellt, deren Komponisten ihre Farben wie Maler mit großer Palette gemischt haben. Natürlich mit Richard Wagner als Vorreiter.

Im "Parsifal"-Vorspiel fegte Letonja jede Andeutung von Bibel-TV, alles weihevolle Pianissimo-Gesäusel beiseite, sondern lenkte die Aufmerksamkeit auf die raffinierten Beleuchtungswechsel, die selbst den Wagner-kritischen Claude Debussy begeisterten. Wie ins Streicher-Unisono des Beginns ein Englischhorn eingebunden und danach das Gefühl eines ständigen Sehnens erzeugt wird – das ist so bildhaft, dass man den leidenden Gralskönig Amfortas beim Bad im Teich quasi vor sich sieht. Und wenn das Blech der Bremer Philharmoniker fulminant das "Dresdner Amen" spielt, wenn aus einer halben Tonleiter aufwärts ein Hymnus wird, steht die Luft.

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Erst recht funktioniert John Adams' dreisätzige "Harmonielehre" wie Filmmusik (und für "I am Love" mit Tilda Swinton wurde das Stück 2010 auch verwendet). Anfangs scheinen Dinosaurier mit zermalmender Wucht zu stampfen, im Mittelsatz stimmt die Cellogruppe einen Totenmarsch an, und zuletzt werden im Geklingel von drei Piccoloflöten, allerlei Glockenspielen und Klavier gleißende Lichter aufgesteckt. Die Mittel sind anders – Letonja dirigierte nun nicht mehr flächig, sondern metronomisch präzise –, die hypnotische Wirkung ähnlich. Zumal die Partitur von Strawinsky bis Mahler (Trompetensolo), von Wagners Ambossen und Feuerzauber bis zu Respighis Fontänen keinen Effekt auslässt.

Die Bremer Philharmoniker kennen ihren Adams aus der Oper "Doctor Atomic" bestens, sie zählten sich nicht nur wie die Maikäfer durch die Außensätze, sondern gaben auch den liegenden Klängen des Mittelsatzes Intensität. Im ewigen Auf- und Abschwellen der Gegenrhythmen mögen sich bei jedem Hörer andere Assoziationen einstellen als von Adams intendiert ("Die Wunde des Amfortas"), doch die ausgetüftelten Klangfarben und ihr fließender Wechsel besitzen eine hohe Faszination. Enthusiastischer Jubel brach los.

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Ihn hatte sich zuvor auch Tamara Stefanovich verdient. Dass Maurice Ravels Klavierkonzert für die linke Hand von 1932 – verfasst für den Pianisten Paul Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte – traumatische Erlebnisse verarbeitet, wurde bei ihr nur allzu deutlich. Die Berliner Pianistin mit serbischen Wurzeln ließ gleich ihren ersten Einsatz in tiefsten Tastenregionen donnern, als wolle sie den Flügel sprengen. Auch später durfte man staunen, welche Virtuosität und Klangfülle sie, bei geschicktem Pedalgebrauch, "mit links" erreichte. Auch Ravel erreicht seine Wirkung über Klangfarben. Mal rasselt es im Orchester wie in einem außer Kontrolle geratenen Spielzeugladen, mal knirscht es "wie eine Nachtigall, die Zahnschmerzen hat" (Eric Satie), mal bricht das Klavier in sarkastisches Gelächter aus.

Stefanovich gab dem beeindruckten Publikum noch zwei weitere Werke mit Handicap zu. Debussy 6. virtuose Etüde für acht Finger sowie die "Pantomime" von György Kurtág , ohne jeden Ton. Ein Scherz, vor dem sogar Adornos Kritik verstummt.

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