Seit dem vergangenen Jahr haben die Bremer Philharmoniker im Tabakquartier ihre neue Heimstatt. Für Proben, für pädagogische Angebote, für Konzerte. Wenn Sie auf die erste Saison im Tabakquartier zurückblicken – welches Fazit ziehen Sie?
Marko Letonja: Wir haben dreimal so viel Platz wie früher und sind sehr glücklich mit unserem Probensaal. Anfangs ist man ja immer etwas besorgt, ob die Akustik stimmt, zumal es sich hier um eine ehemalige Fabrikhalle handelt. Aber die Akustiksegel an der Decke, die Holzpaneelen an den Seitenwänden und der Holzboden leisten gute Dienste. Der Nachhall ist genau richtig. Wir diskutieren allenfalls noch darüber, wie wir die Rückwand verkleiden. Auch die Besucher haben sich allesamt sehr positiv geäußert. Der helle Raum mit den ansteigenden Reihen wie in einem Hörsaal schafft eine gute Atmosphäre.
Die schicke Lounge kommt auch gut an?
Sie steht dafür, dass man hier überall ungezwungen zusammenkommen kann. Bei den Sonntagsmatineen, in denen unsere Instrumentalisten Kammermusik spielen, die sie lieben. Und bei unserer Reihe PhilX, die wir als Experimentierfeld verstehen. In der kommenden Saison bieten wir beispielsweise einen Vorab-Talk zu den "vier Jahreszeiten" an oder laden zu einem Wandelkonzert, bei dem der Klang von Instrumenten in verschiedenen Räumen vorgeführt wird.
Neue Formen der Musikpräsentation für ein neues Publikum?
Die Philharmoniker sind sehr kreativ und engagiert, ob sie nun ein Blechbläserfestival veranstalten oder Matineen im Park spielen. Wir stellen fest, dass sich die Begeisterung der Hörer schnell wecken lässt. Ich freue mich auch sehr, dass unsere Musikwerkstatt hier inzwischen täglich von Kindern und Jugendlichen genutzt wird, die so ziemlich jedes Instrument ausprobieren, Klänge erzeugen oder an Mischpulten ausprobieren können, aus welchen Einzelteilen sich ein Orchesterstück zusammensetzt. Wir möchten es so leicht wie möglich machen, die Welt der Musik zu entdecken.
Welche Baustellen gibt es denn noch?
Ein Problem ist die Schalldämmung der Probenräume unter dem Saal. Wenn im Keller ein Posaunist übt, hört man das oben. Vor allem aber wäre eine direkte Anbindung des Tabakquartiers an den öffentlichen Nahverkehr wünschenswert. Einige Besucher, die es gewohnt waren, dass sie bei der Glocke direkt vor die Haustür fahren konnten, tun sich mit dem Tabakquartier noch etwas schwer.
Im Tabakquartier gibt es 373 Plätze, in der Glocke haben Sie 1392 Sitze zu füllen. Dort bleiben inzwischen oft ganze Reihen leer. Wie steuern Sie dem entgegen?
Das Phänomen, das nach der Corona-Pandemie 30 bis 40 Prozent der Abonnenten weggeblieben sind, kennen sehr viele deutsche Orchester. Wir stellen uns im Programm für die nächste Saison neu auf. Keine komplexen Überschriften, sondern knappe Fragen wie "Was liebst du? oder Worte wie "Harmonie" und "Rausch", die Emotionen wecken. Und wir bilden thematische oder stilistische Komplexe. Einen Abend mit Liebespaaren von Tschaikowsky, Fauré, Wagner und Ravel oder einen Abend nur mit den Wiener Klassikern Haydn, Mozart und Schubert. Komponist Peter Eötvös dirigiert ein Konzert mit leidenschaftlichen Werken der klassischen Moderne – was auch fürs Orchester eine Herausforderung und Bereicherung ist. Das Programm trägt deutlich die Handschrift unseres Interimsintendanten Wolfgang Fink, der einem auch scheinbar Schwieriges schmackhaft machen kann.
Gehört zum neuen Konzept auch, dass der Frauenanteil im Programmheft wächst?
Auf jeden Fall. Wir haben für die kommende Saison mit Anna Rakitina und der vielgefragten Joana Carneiro zwei Dirigentinnen eingeladen und stellen zwei Komponistinnen vor. Im Programm "Mut", in dem ich Stücke dirigiere, die von Helden handeln, befindet sich auch ein Werk der jüngst verstorbenen finnischen Komponistin Kaija Saariaho, die Émilie-Suite. Das Stück erinnert an die Marquise Émilie du Châtelet, die als Mathematikerin und Physikerin im frühen 18. Jahrhundert unbeirrt ihren Weg ging – selbst als sie vom Philosophen Voltaire ein uneheliches Kind erwartete.
Wie machen Sie neuere Komponisten dem Publikum schmackhaft?
Wir haben zweimal John Adams im Programm, darunter seinen Foxtrott "The Chairman Dances", den wir mit Beethovens 7. Sinfonie kombinieren. Ich habe viel amerikanische Musik dirigiert und weiß, dass Adams' Mischung aus Minimalismus und mittelalterlicher Mystik beim Publikum gut ankommt. Auch im letzten Philharmonischen Konzert dieser Saison dirigiere ich Werke von lebenden Komponisten, die zünden. Christian Lindberg bläst sein unglaublich temporeiches Posaunenkonzert, in dem die Grenzen zwischen Klassik und Jazz verschwimmen. Und Jonny Greenwood, der Gitarrist der Alternative-Rockband Radiohead, bewegt sich nicht nur in seiner Norwegischen Holzbläser-Suite sehr erfolgreich auch auf klassischem Gebiet. Da kann keiner mehr sagen: Klassik ist verstaubt und hat mit meinem Leben nichts zu tun.
Wie ist denn die Stimmung im Orchester? Hat die Tournee durch Südkorea für neue Impulse gesorgt?
Jede Tournee ist ein Motivationsgenerator. Und die letzte nach Estland lag schon mehr als zehn Jahre zurück. Zehn Tage zusammenzuleben, das verbindet. In Südkorea ist das Verständnis für europäische Musik sehr hoch. Dort haben wir Konzerthäuser gesehen, in denen alles perfekt war. Und ein hochkonzentriertes Publikum, in dem sehr viele junge Leute saßen. Wir sind mit sehr viel Energie und voller neuer Eindrücke und Impulse zurückgekehrt.
Haben Sie sich gefragt, wie das kommt?
Natürlich. In Südkorea wird jeder Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr verpflichtet, zweimal im Jahr ein klassisches Konzert zu besuchen. Offenbar genügt das schon, um Interesse zu wecken. Vielleicht ließe sich eine ähnliche Idee auch für Deutschland entwickeln, natürlich nicht als Pflicht, aber als festes Angebot von Schulen oder anderen Institutionen.