Herr Bovenschulte, Sie haben am Donnerstag die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj live im Bundestag verfolgt. Wie nimmt man so eine Rede auf?
Andreas Bovenschulte: Das war eine sehr beeindruckende, aber auch bedrückende Rede. Man hat sehr genau gespürt, in welcher furchtbaren Lage sich Herr Selenskyj befindet, weil sein Land genau zu dieser Minute und Stunde zerbombt wird und Menschen sterben. Es war sehr eindrücklich, diese Rede hautnah im Bundestag zu hören.
Was hinterlässt sie?
Sie lässt einen so schnell nicht wieder los, und man ist etwas hilflos, wie man damit umgehen soll. Im Grunde bleibt einem nichts anderes, als eine solche Rede mit Respekt entgegenzunehmen und sich klarzumachen, in welch schwieriger Lage der ukrainische Präsident steckt. Die Last, die er tragen muss, ist enorm. Es wäre anmaßend zu behaupten, dass ich das nachempfinden könnte.
Er steckt in einem Gewissenskonflikt: Wie viele Menschenleben darf die Unabhängigkeit kosten?
Bei Fragen von Krieg und Frieden steht man häufig vor Gewissenskonflikten. Da gibt es dann kein Richtig und kein Falsch, weil alles falsch scheint. Dass sich die Ukraine verteidigt, liegt auf der Hand. Dass der Preis hoch ist, sehen wir jeden Tag. Aber die Frage, was mehr wiegt, Menschenleben oder die Unabhängigkeit und ein Nein zu Putins Politik, kann allein die Ukraine beantworten. Es verbietet sich zu erwarten, dass Ukrainerinnen und Ukrainer einen Stellvertreterkrieg für uns und die Demokratie führen. Es verbietet sich aber auch, sie davon zu überzeugen, den Krieg zu beenden, koste es, was es wolle.
Wolodymyr Selenskyj hat auch Vorwürfe gegen die Bundesregierung erhoben. Sie stelle wirtschaftliche Interessen über den Willen, gegen einen Despoten wie Putin vorzugehen. Wie stehen Sie dazu?
Ich kann Wolodymyr Selenskyjs Argumente selbstverständlich nachvollziehen. Es überrascht nicht, dass er an bestimmten Punkten zu einer anderen Bewertung kommt als die Bundesregierung. Deren Dilemma ist ja, auch deutsche und europäische Interessen vertreten zu müssen. Präsident Selenskyj hat es nicht deutlich ausgesprochen, aber es wurde klar, dass er letztlich auf ein direktes militärisches Eingreifen des Westens hofft. Das zöge einen europäischen Krieg mit unabsehbaren Folgen nach sich. Deshalb ist das für die Bundesregierung keine Handlungsoption. Das wäre nicht zu verantworten.
Er hat gesagt, es gehe der Bundesregierung nur um „Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft“. Was sagen Sie zu weiteren Sanktionen gegen Russland, wie den Verzicht auf Gas und Öl?
Es gibt bisher vier Sanktionspakete mit scharfen Maßnahmen, die Russland hart treffen. Dabei geht es unter anderem um finanzielle Transaktionen und um Einfuhr- und Ausfuhrverbote für bestimmte Waren. Bei möglichen weiteren Sanktionen muss geprüft werden, inwiefern sie bei demjenigen Wirkung entfalten, gegen den sie verhängt werden oder ob sie schwereren Schaden bei denen anrichten, die sie verhängen. Deutschland würde massiv unter einem Gas- und Ölboykott leiden, er würde unabsehbare wirtschaftliche und soziale Konsequenzen nach sich ziehen. Gleichzeitig ist die Wirkung zu bezweifeln, weil Putin über große Devisenreserven verfügt und seine Soldaten in Rubeln bezahlt. Aus diesem Grund lehnt die Bundesregierung einen Gas- und Ölboykott bisher ab.
Ist es nicht auch eine moralische Frage?
Wenn man nur moralisch argumentieren könnte, wäre sie leicht zu beantworten. Aber die Situation ist komplizierter. Was man tut, muss ja die reale Lage verbessern, nicht etwa verschlechtern. Eine weitere Eskalation, einerlei in welche Richtung, ohne dass der Krieg beendet wird, wäre sinnlos und nicht vertretbar.
Ähnliches gilt für Waffenlieferungen. Sie zu liefern, ist falsch. Sie nicht zu liefern, auch. Die Bundesregierung hat versucht, ein bisschen zu liefern. Ist das vertretbar?
Es gibt zwischen Schwarz und Weiß noch einige Grautöne. Die Bundesregierung hat versucht, einen Mittelweg zu finden. Angriffswaffen kann Deutschland nicht liefern. Man hat sich aber dazu durchgerungen, Abwehrwaffen und Schutzgüter zu schicken. Die Frage ist heikel, das ist richtig. Denn einerseits muss der Druck auf Putin so hoch bleiben, dass man ihn damit zum Einlenken bewegt, andererseits darf er nicht zu einer unkontrollierten Eskalation beitragen.
Nach Selenksyjs Rede gab es Streit um die Geschäftsordnung. Als peinlich, beschämend und würdelos wurde das vielfach bezeichnet. Was sagen Sie dazu?
Es gab nach dieser Rede eigentlich nur zwei Möglichkeiten: eine Aussprache oder ein respektvolles Stehenlassen der Rede. Zu Letzterem haben sich auch das britische Unterhaus und der US-amerikanische Kongress entschieden. Was gar nicht geht, ist eine Geschäftsordnungsdebatte, wie sie die CDU-Fraktion angezettelt hat, statt mit der Tagesordnung fortzufahren, wie es vorgesehen und zwischen den Fraktionen verabredet war. Das auf der Zuschauerbank des Bundesrats mitzuerleben, war unangenehm.
Und was sagen Sie zu Ihrem Genossen Gerhard Schröder?
Ich war schon immer ein scharfer Kritiker seiner Politik. Daran hat sich nichts geändert.
Bremen sowie andere Länder und Kommunen nehmen jeden ukrainischen Flüchtling auf, frag- und bedingungslos. Der Bund soll finanziell helfen, das hat Kanzler Olaf Scholz am Donnerstag bei einem Treffen mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten zugesagt. Was heißt das konkret?
Das wissen wir noch nicht, das ist momentan aber auch nicht die entscheidende Frage. Wir nehmen jeden Menschen, der vor dem Krieg fliehen muss, mit offenen Armen auf. Die Finanzierung ist für uns – wie für alle anderen Bundesländer auch – aktuell zweitrangig. Klar ist dennoch, dass Aufnahme, Unterbringung, Infrastruktur und Integration am Ende eine solidarische Aufgabe für Bund, Länder und Kommunen sind, dass Kosten und Lasten solidarisch von allen zu tragen sind. Die Einzelheiten müssen wir noch verhandeln. Ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende eine Lösung finden, die allen gerecht wird.
Apropos gerecht: Der Stadtstaat Berlin, wo sehr viele Flüchtlinge ankommen, fordert auch eine gleichmäßigere Verteilung auf Bundesebene. Unterstützen Sie das?
Auf jeden Fall, dabei geht es aber nicht etwa darum, vermeintliche Lasten loszuwerden. Eine Umverteilung ist im Interesse aller Beteiligten, auch der Geflüchteten. Wir werden in Bremen schließlich nicht jeder Familie umgehend eine Wohnung, einen Kita- oder einen Schulplatz zur Verfügung stellen können. Deshalb ist eine gleichmäßige Verteilung auf Länder und Kommunen richtig und wichtig. Aber das steht wie gesagt momentan nicht an erster Stelle. Die Schritte sind: erst aufnehmen und willkommen heißen, dann gerecht verteilen und gut unterbringen, dann eine solidarische Kostenverteilung klären.
Der Krieg in der Ukraine hat weitere Folgen für Bremen – die steigenden Energiepreise belasten Bevölkerung und Wirtschaft. Manche Handelsbeziehungen sind eingefroren. Haben Sie bereits Brandbriefe erreicht, in denen um Unterstützung gebeten wird?
Wir haben bereits zahlreiche Rückmeldungen bekommen. Bei einem Treffen mit Verbands- und Unternehmensvertretern, Arbeitgebern und Gewerkschaften haben wir uns gerade über die aktuelle Situation in Bremen ausgetauscht, um uns ein klares Bild zu machen.
Und? Wie ist die Lage?
Bremen ist als Logistikstandort massiv von den Preissteigerungen betroffen. Der Energieanteil ist hoch in einer Branche, die Güter in Bewegung bringt. Das ist das eine Thema, über das wir uns ausgetauscht haben. Und natürlich haben wir auch darüber gesprochen, dass private Haushalte bei weiter steigenden Energiepreisen entlastet werden müssen. Wir haben aber auch darüber gesprochen, wie wir den Geflüchteten Arbeits- und Praktikumsplätze zur Verfügung stellen und Sprachkurse anbieten können.
Meinen Sie, die Flüchtlinge wollen in Bremen bleiben?
Das kann heute niemand sagen. Wir richten uns aber darauf ein, dass die Menschen länger bleiben und wollen ihnen den Start in Deutschland leicht machen. Deutschland braucht Arbeitskräfte. Und viele der Geflüchteten sind gut ausgebildet und haben schon signalisiert, dass sie arbeiten wollen.
Ihr Amtskollege in Niedersachsen und Parteifreund Stephan Weil hat gewarnt, dass viele Firmen das extreme Preisniveau nicht durchhalten könnten. Das gelte vor allem für die Chemie- und die Stahlindustrie. Er fordert mehr Hilfe vom Bund. Kann eine Landesregierung bremischen Unternehmen bei der Kompensation der hohen Energiekosten helfen?
Diese Probleme sind sehr real, aber nicht spezifisch bremisch, sondern belasten die Wirtschaft bundesweit. Deshalb ist hier der Bund gefordert. Ich kann mir vorstellen, dass wir unsere Strukturen überprüfen, um manches zu beschleunigen, beispielsweise bei bürokratischen Abläufen wie Genehmigungsverfahren. Angesichts der Pandemie, der Herausforderung des Klimawandels und vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine brauchen wir unbedingt eine Art Renaissance des Pragmatismus.
Einen Umgang mit akuten Problemen wie in der Pandemie? Meinen Sie das?
Genau. Während uns unsere über Jahrzehnte gewachsenen strukturellen und sozialen Schwierigkeiten den Wettbewerb mit anderen Ländern häufig erschweren, konnte Bremen, das darf man in aller Bescheidenheit sagen, im Pandemiemanagement in jeder Weise mithalten. Daraus müssen wir lernen. Wir dürfen unser Handeln nicht zu sehr von formalisierten Abläufen und bürokratischen Anforderungen bestimmen lassen.
Bremen kann auch von sich behaupten, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer hier auf überwältigende Hilfsbereitschaft treffen.
Das kann ich nur unterstreichen. Ich möchte aber auch noch einmal an die Bürgerinnen und Bürger appellieren, Russinnen und Russen und Menschen mit russischen Wurzeln mit Respekt zu begegnen. Russland ist nicht Putin, in Bremen lebende Russinnen und Russen führen nicht Krieg. Viele leiden darunter. Es wäre traurig, wenn der Konflikt nach Deutschland und Bremen getragen würde. Wenn wir uns spalten lassen, spielen wir nur Putin in die Hände. Das darf nicht passieren.