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Völkische in Bremen Als die NSDAP vor 100 Jahren nach Bremen kam

In einem Lokal im Steintorviertel sprach vor 100 Jahren, am 2. Dezember 1922, ein Nationalsozialist aus Hannover. Noch am selben Abend wurde die Bremer NSDAP-Ortsgruppe aus der Taufe gehoben.
03.12.2022, 07:57 Uhr
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Als die NSDAP vor 100 Jahren nach Bremen kam
Von Frank Hethey

Von den rund 100 Anwesenden in einem Hinterzimmer des Restaurants Wellmann ahnte an diesem 2. Dezember 1922 wohl nur ein Bruchteil, was der Abend noch bringen würde. Aus Hannover war ein Gastredner gekommen, der Tischler Seyfert. In seiner Ansprache gab er sich als Nationalsozialist zu erkennen, als glühender Anhänger Adolf Hitlers. "Er ist der geborene Führer", schwärmte Seyfert. Kräftig teilte er gegen "die Juden und das internationale Börsen- und Bankkapital" aus. Sein Credo: "Man kann Sozialist sein und doch vaterländisch denken." Erst am Ende seiner Rede kam er auf eine Parteigründung in Bremen zu sprechen. "Was in Bayern möglich ist, muss im Norden, und zumal in Bremen, erst recht möglich sein." Seyfert wollte aber nicht der Gründer einer Bremer Ortsgruppe sein, "die Sache werde schon von selbst kommen".

So geschah es denn auch, gleich nach Seyferts "mit stürmischem Beifall" aufgenommenen Ausführungen schritt man zur Tat. Wie aus einem erhaltenen Spitzelbericht hervorgeht, kann die Parteigründung aber kaum als spontaner Akt der Begeisterung angesehen werden. Den konkreten Vorschlag unterbreiteten danach zwei Männer, die der Informant als bekannte Gesichter aus "nationalen Kreisen" identifizierte. Sie wollten allerdings nicht selbst Führungsaufgaben übernehmen, sondern schlugen ihrerseits zwei Gleichgesinnte vor, die "die Vorarbeiten so gut erledigt hätten", den "bisherigen Vorsitzenden" August Bröker und seinen Stellvertreter August Pach.  

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Wer heute vor dem früheren Lokal an der Straße Vor dem Steintor 181 steht, würde kaum auf die Idee kommen, sich an der Geburtsstätte der Bremer NSDAP zu befinden. Zum bescheidenen Ambiente passt die Wahl der Führungsriege: Als Buchhalter bei der Bremer Straßenbahn gehörte der kaufmännische Angestellte Bröker dem unteren Mittelstand an, Pach war als Schmied ein Handwerker. Beide wohnten in Stadtteilen, die nicht als gutbürgerlich gelten konnten: Bröker kam aus der Alten Neustadt, Pach aus dem Steintorviertel.

Der Regionalhistoriker Herbert Schwarzwälder spricht geringschätzig von einem Vorstand kleiner Leute "ohne hinreißende Führungsqualitäten". Keiner von ihnen habe später in der NSDAP eine Rolle gespielt. Als heimlichen Parteiführer sieht Schwarzwälder vielmehr eine damals prominente Figur der völkischen Szene in Bremen an, den berüchtigten Oberlehrer Richard Rüthnick. Zwei Mal war der 41-Jährige bereits inhaftiert gewesen. Zuerst Ende 1921 wegen seiner Verbindungen zur Geheimorganisation "Organisation Consul", die den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger auf dem Gewissen hatte. Und erneut im Juli 1922 nach dem Mord am jüdischen Außenminister Walther Rathenau wegen des Verdachts, Umsturzpläne gegen den Senat zu schmieden.

Sobald sich in Bremen die Rechtsextremisten – damals unter dem Label "Völkische" – organisierten, war Rüthnick fast immer in führender Rolle dabei. Der Veteran aus dem Ersten Weltkrieg hatte sich zunehmend radikalisiert. Selbst seine politische Heimat, die rechtskonservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP), erschien ihm 1921 nicht mehr geeignet, eine Antwort auf die drängenden Fragen der Zeit zu finden. Den Versailler Friedensvertrag von 1919 empfand Rüthnick als "Schanddiktat", die Deutschland auferlegten Reparationszahlungen als vom "internationalen Judentum" lancierten Versuch, das Reich und überhaupt die nordische Rasse endgültig in die Knie zu zwingen – die klassischen Zutaten des antisemitischen Verschwörungsmythos.  

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Bei seiner Suche nach einer Alternative zu den klassischen Eliten, die oft genug dem untergegangenen Kaiserreich nachtrauerten und in seinen Augen nichts dazu beitragen konnten, die Kluft zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse zu überbrücken, wurde Rüthnick auf die im Februar 1920 in München gegründete Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) aufmerksam. Wirklich neu war der Gedanke einer Versöhnung von Nationalismus und Sozialismus nicht, solche Bestrebungen hatte es schon früher gegeben. Doch verglichen mit der Weimarer Republik war das Kaiserreich stabil gewesen, die staatliche Autorität war erst zusammengebrochen, als sich die Kriegsniederlage abzeichnete. Und anders als damals trat diesmal mit Hitler ein charismatischer Agitator auf den Plan. 

Als lokaler Vorsitzender des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes hatte Rüthnick bereits 1920 erste Kontakte nach München geknüpft. Rüthnick war auch derjenige, der Hitler zum ersten Besuch nach Bremen gelotst haben dürfte. Ganz sicher kann man sich über das Datum nicht sein, Hitler selbst nannte rückblickend die Jahreswende 1921/22. Bei dieser Gelegenheit wird er auch mit betuchten Bremer Kaufleuten als potenziellen Geldgebern zusammengekommen sein, unter ihnen der rechtslastige Kaffee-Hag-Gründer Ludwig Roselius, der Initiator der Böttcherstraße. Freilich wollte Roselius bei aller Wertschätzung keine müde Mark springen lassen, womöglich speisen sich auch daraus Hitlers spätere Vorbehalte gegen die "Böttcherstraßen-Kultur".

Trotz der guten Kontakte Rüthnicks nach München stand eine Parteigründung zunächst nicht zur Debatte. Auf Nachfrage aus Berlin teilte die Polizeidirektion im April 1922 "ergebenst" mit, die NSDAP sei in Bremen "bisher noch nicht aufgetreten". Es bestehe nur eine kaum 30-köpfige Gruppe der konkurrierenden Deutschsozialistischen Partei (DSP), die "infolgedessen vollständig bedeutungslos" sei. Zuletzt habe es im Dezember 1921 eine Versammlung mit nur annähernd 100 Personen gegeben, nach Einschätzung der Polizei ein "sehr schlechter Besuch".

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Gleichwohl tat sich was hinter den Kulissen. Im Frühjahr 1922 waren Fusionsversuche von DSP und NSDAP am Einspruch Hitlers gescheitert. Das Ende der DSP war besiegelt, als mit Julius Streicher ihr führender Kopf zu Hitler überlief. Der Fahnenwechsel des Nürnberger Radau-Antisemiten im Oktober 1922 war ein Meilenstein bei der Ausbreitung der NSDAP, die ihren Schwerpunkt noch immer in München und Bayern hatte. Bereits im August 1922 hatten Hitler und seine Gefolgsleute die Expansion der Partei nach Norddeutschland beschlossen. Als eine Art Emissär fungierte der frühere Freikorpsführer Gerhard Roßbach, der mehrere Ortsgruppen persönlich aus der Taufe hob.

Praktisch zeitgleich bejubelten die Verächter der Demokratie den italienischen Faschistenführer Benito Mussolini. Erstaunlich leicht war ihm im Oktober 1922 mit dem "Marsch auf Rom" der Umsturz gelungen, der Staatsstreich wirkte wie ein Fanal auf die deutsche NS-Bewegung. Hitler sei der "deutsche Mussolini", war jetzt immer öfter aus den Reihen der Partei zu hören. Nicht umsonst bezeichnete die Bremer Volkszeitung die örtlichen "Faczisten" als "deutsche Mussolinijünger". Hitler selbst fremdelte zunächst noch mit seiner Wandlung vom "Trommler" zum "Führer". Erst ab 1923 entwickelte sich der Führerkult. 

Indessen wartete man nicht überall auf Münchener Schützenhilfe bei der Gründung von Ortsgruppen. In Wolfenbüttel formierte sich am 19. November 1922 ein Ableger aus eigenem Antrieb – die Stadt sei damit die Keimzelle des Nationalsozialismus im Freistaat Braunschweig und in Norddeutschland gewesen, heißt es auf der kommunalen Website. Parallel griff allerdings auch schon der Staat durch. Bevor sich die NSDAP im Norden etablieren konnte, hagelte es auf Grundlage des neuen Gesetzes zum Schutze der Republik etliche Verbotsmandate auf Länderebene. In Preußen erging das Parteiverbot am 15. November 1922, ersatzweise wurde die Großdeutsche Arbeiterpartei ins Leben gerufen.   

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Vermutlich deshalb die Geheimniskrämerei in Bremen. In einer Polizeimeldung ist zu lesen, man habe keine Kenntnis von der vorgesehenen Parteigründung gehabt, deshalb sei die Versammlung auch nicht überwacht worden. Merkwürdig nur, dass im Aktenkonvolut der Polizei trotzdem ein Spitzelbericht vorliegt – womöglich wusste die eine Hand nicht, was die andere tut. Unter den Anwesenden war demnach auch Rüthnick. Warum er diesmal nicht die erste Geige spielte, sich noch nicht einmal zur Wahl stellte, kann nicht zweifelsfrei geklärt werden. Eine plausible Erklärung wäre, dass er zwar zu den Strippenziehern gehörte, als Akademiker die Bühne aber Personen überlassen wollte, die eher als Arbeiter wahrgenommen wurden.    

So richtig ernst nahmen die politischen Gegner die Newcomer nicht. Die Bremer Volkszeitung spottete über das "übliche Ragout nationalistischen Blödsinns". In Anspielung auf die bayrischen Wurzeln der NSDAP hieß es, ein Teil der Besucher habe mal ein "Gaudi" haben wollen – die neue Partei als völkisches Kasperletheater. Alles andere als beunruhigt war auch die Polizei. Nach der ersten Plakataktion kurz vor Weihnachten 1922 konstatierte man, irgendeine Bedeutung sei der Ortsgruppe "bisher in keiner Weise beizumessen".  

Dazu gesellte sich eine Personalie, die für reichlich Häme sorgte. Denn schon sehr bald stand die NSDAP ohne Parteichef da. Wie die Linkspresse berichtete, hatte sich Bröker der Unterschlagung schuldig gemacht. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, die Bremer Straßenbahn trennte sich von ihrem Buchhalter. Auch die NSDAP hatte es eilig, Bröker den Laufpass zu geben. Sein Nachfolger, der bisherige zweite Vorsitzende Pach, gab gegenüber der Polizei am 26. Januar 1923 an, Bröker sei "wegen der von ihm begangenen strafbaren Handlung aus der Partei entfernt worden".

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Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Bremen schon fleißig daran, dem preußischen Beispiel zu folgen und die NSDAP zu verbieten. Aus Berlin erbat man Belastungsmaterial und bekam es in Gestalt der Parteizeitung, des "Völkischen Beobachters". Das reichte, um ohne große Mühe die Verfassungsfeindlichkeit der NSDAP festzustellen. Die Vorwürfe müssten "auch die Ortsgruppen gegen sich gelten lassen", heißt es im Senatsbeschluss vom 13. Februar 1923. In der Partei reagierte man mit Unverständnis. "Was haben wir denn gemacht?", empörte sich ein Nationalsozialist in der Presse – und antwortete: doch nur Plakate geklebt.

Womöglich bedauerte Rüthnick, sich nicht stärker in die Parteiarbeit eingebracht zu haben. Wenige Monate später, im Mai 1923, erbat er von Hitler die Erlaubnis, in Bremen abermals eine Ortsgruppe aufzubauen, vermutlich unter einem Tarnnamen. Unterdessen sammelten sich etliche heimatlose Bremer Nazis in der im Januar 1923 gegründeten Ortsgruppe der Deutsch-Völkischen Freiheitspartei, einer radikalen Abspaltung der DNVP. Als am 9. November 1923 der Hitlerputsch in München stattfand, gärte es auch in Bremen. Gegen einen gewaltsamen Umsturz hatte Rüthnick nichts einzuwenden, wohl aber gegen dilettantisches Vorgehen. Als die Partei im April 1924 wieder zugelassen wurde, war von Rüthnick nichts mehr zu sehen. Noch jahrelang dümpelte die NSDAP vor sich hin – ihren Durchbruch erreichte die Partei erst bei den Reichstags- und Bürgerschaftswahlen von 1930. 

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