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Sozialsenatorin Anja Stahmann "Ich habe den Suchtfaktor von Politik unterschätzt"

Anja Stahmann hat ihren Rückzug aus der Politik angekündigt. Im Gespräch mit dem Weser-Kurier erhellt sie ihre Motive, analysiert das Wahlergebnis, die Lage der Grünen und des Senats und schaut zurück.
09.06.2023, 05:00 Uhr
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Von Silke Hellwig

Frau Stahmann, Sie ziehen sich aus der Politik zurück. Das hat viele überrascht. Können Sie die Gründe bitte noch einmal erläutern? Was hat den Ausschlag gegeben?

Anja Stahmann: Senatorin ist man auf Zeit, das war mir immer klar. Ich bin aus Überzeugung auf Platz 3 der Kandidatenliste angetreten. Ich war viel im Wahlkampf unterwegs und hatte den Eindruck, dass viele den Grünen grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Umso mehr hat mich das Ergebnis geschockt. Man geht nach Hause und fragt sich, wie es weitergehen soll. Ich habe mich auch gefragt, ob ich eine Zutat bin, mit der die Grünen in den kommenden vier Jahren zu besseren Ergebnissen kommen werden, zumal der Teil des Kuchens für die Grünen kleiner wird. Ich habe weniger Stimmen bekommen als vor vier Jahren. Auch das hat mir zu denken gegeben. Ich glaube, die Grünen befinden sich in einer Lage, in der man Jüngeren das Feld überlassen sollte, damit sich die Partei neu aufstellen kann, so schmerzlich das für mich persönlich auch ist.

Wie schwer ist Ihnen dieser Schritt gefallen?

Ich bin in Bremen seit 24 Jahren politisch hauptberuflich aktiv, und ich habe den Suchtfaktor von Politik unterschätzt. Es war kein Tag langweilig. Ich habe das Privileg genossen, in verschiedene Politikfelder zu schauen, viele Einrichtungen und viele Menschen kennenzulernen und etwas bewegen zu können. Den Ausstieg zu finden ist viel schwieriger als den Einstieg. 

Wie entsteht die Sucht nach Politik?

Man trägt sehr viel Verantwortung, aber man bekommt auch etwas zurück - Anerkennung, Beachtung, Feedback, auch Zuneigung. Sehen Sie als Beispiel die Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien im Jahr 2015. Zu erleben, wie sich die Zivilgesellschaft mit der Politik verbündet, das war ein großes Erlebnis. Die vielen Begegnungen mit Geflüchteten und den Unterstützenden möchte ich nicht missen.

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Die großzügige Aufnahme von Flüchtlingen, über die Verpflichtungen hinaus, hat Ihnen aber auch Kritik eingebracht. 

Das war immer ein bisschen ungerecht. Wir verteilen generell um nach dem Königsteiner Schlüssel. Nur bei den unbegleiteten Minderjährigen haben wir in der Corona-Zeit darauf verzichtet, weil kaum eine Jugendhilfeeinrichtung im Normalzustand arbeiten konnte. Dass wir jetzt auch Minderjährige wieder weiterschicken, war am Ende politisch nicht unumstritten. Aber wir können nicht anders, wenn wir das Kindeswohl gewährleisten wollen. Bremen hat einen guten Ruf bei den jungen Unbegleiteten und wird weit überproportional angelaufen. Aber wir können nicht die ganze Welt retten, sondern nur ein kleines Stück.

Problematisch ist auch, wie der Bremer Politologe Stefan Luft unlängst in einem Interview mit dieser Zeitung gesagt hat, dass die eigentliche Integrationsleistung in den Stadtteilen geleistet werden muss, die die größten Probleme haben.

Das ist leider richtig, und ein Problem, mit dem man umgehen muss. Wir müssen in die Stadtteile, in denen es Wohnraum und freie Flächen gibt. Als Sozialsenatorin kann ich diese Zwänge erläutern und die sozialen Unterstützungsstrukturen im Quartier ausbauen, das habe ich auch getan. Aber Kita, Schule sprachliche, berufliche und kulturelle Integration bleiben eine riesige Herausforderung. Wir haben Geflüchtete übrigens auch in „bürgerlichen“ Stadtteilen untergebracht – Gabriel-Seidl-Straße, Kurfürstenallee oder Thomas-Mann-Straße, alle drei in Schwachhausen. Auch da gab es teils massive Bedenken – Anwohner wollten sogar das Haus in der Gabriel-Seidl-Straße kaufen, um die Anmietung zu verhindern. Eine der größten Unterkünfte stand 2015 in Oberneuland.

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Wie ist es Ihnen gelungen, vor dem Hintergrund solcher Schwierigkeiten und mit einem tendenziell unterfinanzierten Ressort die dienstälteste Sozialministerin bundesweit zu werden?

Als ich vor zwölf Jahren anfing, habe ich das Handbuch "Wie geht Senatorin im Sozialressort" in keiner Schublade vorgefunden. Ich lernte Gittermappen kennen und Verwaltungsabläufe. Ich habe viel zugehört, ich habe mir zugetraut, zu entscheiden. Ich habe mich immer als Leitschaf gesehen und konnte auf ein fantastisches Team bauen. Ich habe versucht, auch in Konflikten niemanden mit einer vorgefassten Meinung vor den Kopf zu stoßen, sondern um gemeinsame Lösungen gerungen. Der Teamspirit, der Respekt vor dem Wissen der vielen hochkompetenten Kolleginnen und Kollegen im Haus, das ist der Kern, glaube ich.

Man erwartet, dass Ihr Ressort den sozialen Frieden wahrt. Wenn das gelingt, gibt es allerdings keinen Applaus. Dafür gibt es teils scharfe Kritik, wenn etwas schiefläuft. Wie sind Sie damit umgegangen?

Wir haben uns bemüht, Probleme zu lösen, bevor sie in der Zeitung stehen, und wir haben darauf geachtet, die Menschen nicht ans Licht zu zerren, für die wir zuständig sind. Das sind ja meist „vulnerable Gruppen“, wie man heute sagt. Diese Haltung hat uns vielleicht ein bisschen „unsichtbar“ gemacht. Auf der anderen Seite war Kritik an mir teilweise scharf und verletzend. Trotzdem muss man immer selbstkritisch bleiben und sich fragen: Was ist wirklich dran an der Kritik? Was begründet ist, habe ich mich bemüht, aufzunehmen. Was unbegründet und einfach nur gemein ist, muss man dann auch mal wegatmen können.

Sie haben Ihren Parteifreunden einige Ratschläge mit auf den Weg gegeben. Einer davon bezieht sich auf die Zusammenarbeit von Senatsmitgliedern, Fraktion und Partei. Sie sagten, Sie hätten sich im Senat manchmal gefühlt wie in der Opposition. Wie ist das zu verstehen?

Regieren ist Realpolitik. Da darf der Blick für das Machbare nicht verlorengehen. Uns im Senat hat manchmal die Unterstützung von den eigenen Leuten gefehlt. Das Parlament soll die Regierung kontrollieren, ja. Aber wir haben uns aneinander gerieben, meiner Meinung nach mehr als uns gutgetan hat. Bei der SPD in Bremen gehört es zu den Erfolgsgeheimnissen: Sie ist Opposition und Regierung in einem und sie reklamiert auch gerne mal Erfolge für sich, die den Koalitionspartnern zu verdanken sind. Damit müssen Grüne lernen umzugehen.

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Sie haben den Grünen auch geraten, häufiger Straßenbahn zu fahren, um zu erfahren, was die Bremerinnen und Bremer beschäftige.

Manchem Grünen würde nach meinem Gefühl eine größere Nähe zu den Menschen im Alltag guttun. Das scheint bei einigen, nicht nur in Bremen, ein wenig zu kurz zu kommen. Viele Menschen haben Sorgen und Fragen und das Gefühl, dass Politikerinnen und Politiker nicht wissen, wie es ihnen geht. Politik wird als abgehoben wahrgenommen, fernab von der Lebenswirklichkeit. Das ist politisch gefährlich. Das sieht man an der Zustimmung zu Parteien, die die selbst Tatsachen in Abrede stellen und keine zukunftsgerichteten Antworten haben.

Und: Die Grünen sollten demütig in die Koalitionsverhandlungen einsteigen, sich aber nicht demütigen lassen. Was meinen Sie damit?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Ressorts im künftigen Senat zusammenzustellen. Die Grünen sollten sich nicht mit abseitigen Zuständigkeiten und Kombinationen abspeisen lassen, bei denen ihre politische Agenda nicht mehr erkennbar ist. Grüne Themen sind die Themen unserer Zeit: Nachhaltigkeit, Klimaschutzstrategie, Mobilität, Toleranz, gesellschaftliche Vielfalt, Zusammenhalt. Das muss auch im künftigen Senat sichtbar werden. Eine spannende Frage wird sein, welche Dynamik im neuen Senat herrscht. Wird eine Art Bovikratie entstehen, oder werden die anderen Senatorinnen und Senatoren die Zuständigkeit für ihre Ressorts mutig, stark und tapfer verteidigen?

Sollen die Grünen am Sozialressort festhalten?

Die SPD hat das Ressort vor zwölf Jahren unter großen Schmerzen abgegeben. Dass der Trennungsschmerz im Laufe der Jahre nachgelassen hat, hängt sicher auch mit mir als Person zusammen. Das Sozialressort wirkt in die Gesellschaft hinein, dort, wo es unmittelbar spürbar ist. Dazu ist es bestens aufgestellt. Aber ich ziehe mich aus der aktiven Politik nicht zurück, um den Nachfolgenden ins Handwerk zu pfuschen. Das Ressort ist wichtig, und ich hoffe, dass es weiterhin gut geführt wird.

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Was hat das Amt mit oder aus Ihnen gemacht?

Es heißt ja: Gib jemandem Macht und es zeigt sich sein Charakter. Ein Mitarbeiter hat kürzlich zu mir gesagt: Verrückt, wie wenig Sie sich verändert haben. Ich habe das als Kompliment aufgefasst. Ich glaube, ich bin mit meiner Rolle als Senatorin behutsam umgegangen bin. Ich bin nicht übergeschnappt, ich habe die Kolleginnen und Kollegen immer respektiert – und mir auf diese Weise auch Respekt verschafft.

Sind Sie härter geworden?

Ein bisschen schon. Ich habe ein dickeres Fell bekommen. Tragische Kinderschutzfälle bewegen mich immer noch, wenn auch eine gewisse professionelle Distanz hinzugekommen ist. Aber Angriffe aus dem politischen Raum kann ich auch mal an mir abtropfen lassen, wenn ich überzeugt bin: Da ist nichts dran.

Was hat gelitten?

Die Zeit mit Freunden. Das habe ich vermisst. Die Improtheatergruppe, deren Mitglied ich war, hat die Corona-Zeit nicht überstanden. Das war für mich immer ein wichtiger Ausgleich. 

Was sollte in den Geschichtsbüchern über die Sozialsenatorin Anja Stahmann zu lesen sein?

Anja Stahmann – die Brückenbauerin. Ich glaube das ist meine Stärke in der politischen Auseinandersetzung. Stark um das beste Ergebnis ringen, aber immer mit den Menschen, nie gegen sie.

Wie geht es weiter? Kommt ein Ehrenamt bei den Grünen infrage?

Ich werde erst mal alles sacken lassen, zur Ruhe kommen und – um mit Richard David Precht zu sprechen: überlegen, wer ich bin und wenn ja, wie viele. Ich habe mich jetzt jahrelang um andere und anderes gekümmert. Wenn ich Besuch bekomme, sage ich immer: Es kann hier nicht aufgeräumt sein, weil der Schwerpunkt anderswo liegt. Jetzt ist die Frage, wo der neue Schwerpunkt liegen wird.

Gibt es schon Angebote?

Tatsächlich habe ich schon gehört: Komm doch zu uns. Da war bislang noch kein ernst zu nehmendes Angebot dabei, aber ich freue mich sehr über die Wertschätzung. 

Das Gespräch führte Silke Hellwig.

 

 

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