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Sozialsenatorin Stahmann "Großzelte will ich auf Dauer nicht als Unterkünfte akzeptieren"

"Wir haben mehr als 12.000 Menschen aufgenommen", sagt Anja Stahmann im Interview. Welche sozialen Probleme die Bremer Politik in der ablaufenden Legislaturperiode angepackt hat - was offen bleibt.
02.01.2023, 14:23 Uhr
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Von Patricia Brandt

Frau Stahmann, das Armutsrisiko ist weiterhin hoch im Bremer Norden. Wie gehen Sie damit um?

Anja Stahmann: Wer Menschen helfen will, sich aus ihrer Armut zu befreien, muss sie in die Lage versetzen, in guten Jobs am Erwerbsleben teilzuhaben. Qualifizierte Arbeitskräfte werden überall gesucht, aber zwei Drittel der Arbeitslosen in Bremen haben keinen Berufsabschluss, keine Qualifikation für unseren anspruchsvollen Arbeitsmarkt. Da müssen wir als Gesellschaft ran. Dazu gehören in allererster Linie gute Bildung und eine erstklassige Berufsausbildung. Ganz wichtig ist daher eine Regelung beim Wechsel von „Hartz IV“ zum Bürgergeld. Das Jobcenter kann in dem neuen gesetzlichen Rahmen verstärkt vermitteln, damit Menschen auf Dauer aus der Arbeitslosigkeit herauskommen und vernünftig verdienen. Auch das Kita-Brückenjahr vor der Einschulung ist wichtig. Es wird dazu beitragen, dass Kinder nicht schon zu Schulbeginn abgehängt werden, weil sie die deutsche Sprache nicht oder schlecht beherrschen. Und natürlich brauchen wir armutsfeste Löhne. Sie wissen, dass Bremen mit dem Landesmindestlohn Vorreiter war und damit eine Bewegung in Gang gebracht hat, die inzwischen auch der Bund übernommen hat. 

Im Integrierten Struktur und Entwicklungskonzept für Bremen-Nord, kurz ISEK, sind nur wenige soziale Fragen angeschnitten. Gibt es Nachholbedarf? Muss das ISEK um ein weiteres Konzept ergänzt werden? 

Sozial ist im Senat nicht nur das, wo sozial dran steht. Das Soziale zieht sich wie ein rot-grün-roter Faden durch die Arbeit aller Senatsressorts: Wenn wir Schulen und Kindergärten ausbauen, ist das Sozialpolitik, wenn wir das pädagogische Personal in belasteten Stadtteilen verstärken auch. Ob wir Sprachmittler einsetzen oder städtebauliche Maßnahmen zur Attraktivierung der Quartiere ergreifen, wie zum Beispiel die Verbesserung der Aufenthaltsqualität auf dem BWK-Gelände, wenn wir Win-Gebiete finanziell stärken, Unternehmen ansiedeln, neue Wegeverbindungen entlang der Weser schaffen – all das ist Teil der sozialpolitischen Agenda des Senats, die sich im ISEK wiederfindet. Es trägt mittelbar oder unmittelbar dazu bei, die Strukturen zu stärken, die Menschen auf dem Weg aus der Armut zu unterstützen und die soziale Durchmischung zu fördern.

Gibt es einen Sozialplan der Behörde für Bremen-Nord 2023?

Das Jahr 2023 wird von der Energiekrise und ihren Kosten geprägt sein. Das wird Menschen in wirtschaftlich prekären Lebenslagen noch viel stärker treffen als andere. Wir haben ein gutes Hilfssystem, das greift, wenn Menschen mit ihren eigenen Möglichkeiten an ihre Grenzen kommen. Auch, wenn sie bislang keine Sozialleistungen beziehen. Nun ist es wichtig, dass sich das herum spricht. Dazu wollen wir beitragen.

Wird das Programm der Umweltwächter fortgeführt?

Gesichert ist die Finanzierung bis Ende 2023. Eine Herausforderung bleibt die Integration in den ersten Arbeitsmarkt, das ist kein Selbstgänger. Aber ich weiß, dass meine Kollegin Kristina Vogt da an Lösungen arbeitet. Wie die Regierung nach der Wahl im Mai über das Projekt denkt, kann ich nicht vorhersagen. Aber aus Sicht der Sozialsenatorin muss ich sagen: Das Projekt mit seinen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen vermittelt den Menschen ein ganz neues Selbstbewusstsein – mit Fernwirkung in die Familien hinein. Das gilt nach der Wahl genauso wie vor der Wahl. Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Scham rütteln am Selbstwertgefühl der ganzen Familie. Unterschätzt wird dabei oft die Vorbildrolle der Eltern. Wenn Kinder nie erleben, dass die Erwachsenen ihren Unterhalt aus eigener Kraft erwirtschaften – wie sollen sie dann selber jemals diesen Anspruch entwickeln? Auch die Bevölkerung nimmt die Umweltwächter gut an, insofern kann man dem Projekt nur wünschen, dass es weitergeführt und vielleicht sogar auf andere Quartiere ausgeweitet wird.  

Vegesack hat ein Drogenproblem, Streetworker sind überfordert, Anlieger besorgt. Was unternimmt die Sozialbehörde?

Wo die Menschen ihre Wohnung verlieren, weil sie nicht mehr in der Lage sind, ihre finanziellen Verpflichtungen im Blick zu behalten, da kommen wir ins Spiel. Natürlich sind Drogenkonsum und Wohnungslosigkeit gesamtstädtische Phänomene, aber wir brauchen auch eine Anlaufstelle in Bremen-Nord. Die haben wir inzwischen wieder eingerichtet. Und im Jahr 2023 wird die Zentrale Fachstelle Wohnen die Menschen auch zu Hause aufsuchen, wenn der Verlust der Wohnung droht. Davon verspreche ich mir, dass wir sehr viel mehr Zwangsräumungen abwenden können.

Im vergangenen Jahr wurde der Mangel an Unterkünften für Obdachlose beklagt. Weiterhin gibt es keine Container in Bremen-Nord. Warum nicht?

Wir hatten zwei Unterkünfte in Bremen-Nord, im Moment ist es nur noch eine mit zwei Dutzend Plätzen. Das hat wesentlich mit dem räumlichen Angebot in diesem Segment zu tun. Grundsätzlich kann ich mir vorstellen, das Angebot in Bremen-Nord wieder auszuweiten, weil es Obdachlose mit emotionalen und zwischenmenschlichen Beziehungen zu den Stadtteilen hier gibt. Das wollen wir nicht ignorieren. Aber es fehlt uns ein geeignetes Objekt.

Wie sieht die Zukunft des Blauen Dorfs aus? Wird die Unterkunft für Geflüchtete nach 2025 bestehen?

Das Blaue Dorf ist eine Erfolgsgeschichte. Die Menschen fühlen sich hier aufgehoben, die Einrichtungsleitung macht einen tollen Job, die Modulbauten sind von hervorragender Qualität und es hat schon so viel Unterstützung durch Ehrenamtliche gegeben – eigentlich darf man so etwas nicht aufgeben. Gleichzeitig haben wir einen enormen Bedarf an vernünftigen Unterkünften und bauen unsere Kapazitäten dramatisch aus. Auch unter diesem Gesichtspunkt wäre es Sünde, das Blaue Dorf abzureißen. Auf der anderen Seite stehen die Module baurechtlich auf einer Grundlage, die nur bis zum 31. Dezember 2024 gilt. So lange können wir Flüchtlingsunterkünfte auch in Gewerbegebieten betreiben. Ob wir danach Bestandsschutz bekommen, ob die Regelung ausläuft oder ob sie verlängert wird – das kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Wir werden uns auf jeden Fall darum bemühen, den Standort zu erhalten.

Planen Sie weitere Flüchtlingsunterkünfte in Bremen-Nord?

Wir haben allein 2022 mehr als 12.000 Menschen zumindest vorübergehend aufgenommen – in einem Aufnahmesystem, das zu Anfang des Jahres schon zu 95 Prozent ausgelastet war. Wir hatten ein unglaubliches Ausbautempo, und daran hat sich bislang nichts geändert. Wir reden deshalb im gesamten Stadtgebiet mit Menschen, um neue Unterkünfte zu schaffen, auch in Bremen Nord. Messehallen, Leichtbauhallen und Großzelte will ich auf Dauer nicht als Unterkünfte akzeptieren.

Sollte die Gewoba die Grohner Düne kaufen, die nach wie vor als sozialer Brennpunkt gilt, würde das Engagement des Bewohnertreffpunkts ausgebaut?

Man soll bekanntlich den Bären erst erlegen und anschließend sein Fell verteilen. Die Gewoba als Eigentümerin der Düne würde uns tatsächlich neue Handlungsmöglichkeiten verschaffen. Ein Eigentümer mit starker kommunaler Verankerung bietet Möglichkeiten, die man von einem privatwirtschaftlichen Eigentümer vermutlich nicht erwarten kann. Wenn die Gewoba am Ende tatsächlich Eigentümerin werden sollte, werden wir uns sicher zusammensetzen und sehen, wie man die Strukturen in der Düne stärken kann. Aber, wie gesagt, das ist der zweite Schritt, gucken wir erst mal, wie es mit dem ersten läuft.

Was hätten Sie in dieser Legislaturperiode gerne geschafft?

Das ist so viel, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich blicke lieber auf das, was ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Haus geschafft habe: Wir haben allein in diesem Jahr mehr Flüchtlinge aufgenommen als in 2015, die Flüchtlingsberatungsstellen in den Quartieren ausgebaut, die Win-Quartiere finanziell endlich dauerhaft abgesichert, das Landesprogramm Lebendige Quartiere aufgesetzt, rund sechs Millionen Euro für die Sanierung von Spielplätzen ausgegeben, auch am Vegesacker Hafen und an der Düne übrigens, ein Corona-Sofortprogramm für die Sportvereine aufgelegt, Sportplätze mit stromsparender LED-Technik ausgestattet, Kunstrasenplätze ausgebaut, das Horner Bad in Betrieb genommen und den Eintritt für Jugendliche im Freibad auf einen Euro abgesenkt – und das ist noch lange nicht alles. Dafür muss man auch mal dankbar sein, und nicht noch was oben drauf packen. Ich glaube, wir können zufrieden sein.

Das Interview führte Patricia Brandt

Zur Person

Anja Stahmann (Grüne)

ist seit 2011 Sozialsenatorin in Bremen. Die Diplom-Sozialwirtin wurde 1967 in Bremerhaven geboren und hat zwei Kinder. Als Meilenstein ihrer Amtszeit sieht sie die Herausforderungen bei der Aufnahme von Geflüchteten.

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