Verfahrensstau – diesen Begriff brachte man bisher nicht mit dem höchsten Bremer Gericht in Verbindung. Der Staatsgerichtshof ist keine normale juristische Instanz wie die Verwaltungs- oder Amtsgerichte, die jedes Jahr Tausende Fälle abarbeiten. Das liegt schon daran, dass sich nicht jedermann an dieses Verfassungsorgan wenden darf. Es kann vom Senat oder der Bürgerschaft angerufen werden, von anderen Gerichten oder von Körperschaften des öffentlichen Rechts wie etwa der Handelskammer. Am Staatsgerichtshof geht es also nicht um irgendwelche Händel, sondern um Rechtsstreitigkeiten von grundsätzlicher Bedeutung.
Doch deren Zahl hat zugenommen, und der Aktenstapel scheint weiter zu wachsen. Die aktuelle Klage der FDP-Bürgerschaftsfraktion gegen den Landeshaushalt 2024 hat den Blick auf diese Entwicklung gelenkt. Schaut man sich die Liste der Verfahren seit 2015 an, so ergibt sich in jüngster Zeit ein deutlicher Anstieg. Gewisse Häufungen gab es zwar stets im Gefolge von Bürgerschaftswahlen, wenn es um Wahlprüfungsverfahren ging. Ansonsten musste der Staatsgerichtshof bis vor zwei, drei Jahren aber relativ selten zusammentreten. 2019 etwa, als es um die Zulässigkeit eines Volksbegehrens gegen den Pflegenotstand ging. Ab 2022 wuchs das Arbeitspensum der sieben ehrenamtlichen Richter. So hatten sie darüber zu entscheiden, ob die Einrichtung von Briefwahlzentren an Schulen rechtens sei, dann kam das Verfahren zum Platanen-Volksbegehren auf den Tisch.
Im vergangenen Jahr gab es dann einen ganzen Schwung neuer Streitfälle. Die meisten hatten mit dem Ausschluss der konkurrierenden AfD-Listen von der Bürgerschaftswahl zu tun. Zusätzlich klagten Handels- und Handwerkskammer gegen den sogenannten Ausbildungsunterstützungsfonds, der die Bremer Unternehmen zu einer neuen Abgabe heranzieht. Der Fraktionsvorsitzende von Bündnis Deutschland in der Bürgerschaft, Jan Timke, klagte gegen eine Disziplinarmaßnahme der Sitzungspräsidentin. Die CDU rief das Gericht an, um die Rechtmäßigkeit des Nachtragshaushaltes 2023 überprüfen zu lassen. Und nun also die FDP-Klage gegen den Haushalt 2024, der wahrscheinlich noch eine weitere, ähnlich gelagerte Klage der CDU-Fraktion folgen wird.
Ist das alles noch zu schaffen für ein Gericht, dessen Mitglieder allesamt andere „Hauptjobs“ haben? Der Staatsgerichtshof setzt sich überwiegend zusammen aus Vorsitzenden Richtern, die in höheren Instanzen der bremischen Gerichtsbarkeit tätig sind. Daneben gehören ihm mehrere Jura-Professoren an, aktuell auch ein Rechtsanwalt aus Bremerhaven. Alle sind in ihrem eigentlichen Berufsfeld also gut ausgelastet.
Präsident Peter Sperlich steht zugleich an der Spitze des Oberverwaltungsgerichts. Er bestätigt die Tendenz beim Fallaufkommen. „Ja, der Staatsgerichtshof wird häufiger in Anspruch genommen“, sagt Sperlich, der auch eine Jura-Professur an der Uni Bremen innehat. „Das bindet natürlich Ressourcen.“ Zum ersten Mal in seiner 75-jährigen Geschichte habe der Staatsgerichtshof deshalb 2023 etwas getan, was an anderen Landesverfassungsgerichten und erst recht am Bundesverfassungsgericht gang und gäbe ist: die Bestellung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters, um für einen konkreten Fall das rechtliche Terrain zu sondieren. Ein Jurist vom Oberverwaltungsgericht wurde für zwei Monate abgeordnet und arbeitete sich in die Klage der Kammern gegen den Ausbildungsfonds ein. Seine Vorab-Einschätzungen helfen nun den sieben ehrenamtlichen Richtern bei ihrer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Fonds. Ähnlich soll es bei der Haushaltsklage der FDP laufen. Solange er den Staatsgerichtshof führt, sagt Sperlich, habe noch kein Verfahren länger als ein Jahr bis zum Verkündungstermin gedauert. Durch den Einsatz wissenschaftlicher Mitarbeiter „wird das möglichst auch so bleiben“, hofft Bremens ranghöchster Richter.