Frau Rosenkötter, warum sollten heute noch Eltern ihre Kinder in einem Turnverein anmelden?
Ingelore Rosenkötter: Das Anmelden sollten Eltern am besten gleich gemeinsam mit ihren Kindern machen, weil hier Menschen zusammen kommen, die zwischen einem und 100 Jahren alt sind. Das zeichnet Turnvereine doch unter anderem aus. Der Bremer Turnverband ist 75 Jahre alt, aber das Herzstück für Turnen, Bewegung und Sport sind unsere Mitgliedsvereine, dort spielt die Musik.
Und warum soll ich mein Kind besser in einem Turn- als in einem Handballverein anmelden?
Sport fängt mit Turnen an! Die Turnvereine stehen für die Grundsportart, die Kernsportart. Hieraus entwickeln sich die Bewegungsabläufe, die später in anderen Fachsportarten benötigt werden. In der Übungsleiterausbildung habe ich gelernt: Kippen, Felgen, Stemmen, wenn das beherrscht wird, hat man eine komplexe körperliche Grundausbildung.
Die ich wofür nutzen kann?
Der Fosbury Flop im Hochsprung, der Korbwurf im Basketball, der Sprungwurf im Handball, das alles und vieles mehr resultiert aus diesen Grundelementen des Turnens. Und damit kann man doch gar nicht früh genug beginnen. Die Vater-Mutter-Kind-Gruppen, das Kleinkinderturnen, der anerkannte Bewegungskindergarten stehen für spielerisches Lernen von unterschiedlichsten Bewegungsabläufen. Und das leisten unsere Vereine mit ihren engagierten Übungsleiterinnen und Übungsleitern.
Was war Ihr erster Turnverein?
Ich war als Kind in keinem Turnverein. Ganz einfach, weil es damals, vor mehr als sechzig Jahren, in meinem Heimatort Worpswede zwar einen Turnverein, nicht aber schon Kleinkinder- oder Kinderturngruppen gab. Ich konnte dafür noch auf der Straße Rollschuhlaufen und Fußball spielen, geturnt wurde in der Schule. Aber nicht in einer Turnhalle, sondern im örtlichen Tanzsaal – der im Übrigen heute die Music Hall Worpswede beherbergt. Da ich immer ein Bewegungsmensch war und geblieben bin, hat es mich dann eher zufällig in die Leichtathletik gezogen, das war auch ohne Turnhalle möglich.
Das Wort "Turnverein" hört sich aber schon unsexy und ein wenig aus der Zeit gefallen an, oder?
Die meisten Vereine haben abgekürzt ein TSV, TSG oder TS davor, verbunden mit dem Namen des Stadtteils oder des Ortes. Und der Turnverein wird doch eher mit tollen Angeboten, engagierten Übungsleiterinnen und Übungsleitern, erfolgreichen Sportlerinnen und Sportlern und Sportfreunden, die man dort trifft, verbunden. Und ja, Turnverein hört sich schon nach ganz viel Üben für einen kleinen oder großen Erfolg an. Das klassische Geräteturnen ist aber nur eine Facette von Angeboten in unseren Mitgliedsvereinen. Zum Bremer Turnverband gehören zum Beispiel die Turnspiele Ringtennis, Faustball, Korbball und Prellball, in Bremerhaven das Trampolinturnen. Alles Sportarten, in denen bremische Turnerinnen und Turner sehr erfolgreich sind. Und es sind da noch die Spielmannszüge, die sogenannte Turnermusik.
An die denkt man bei Turnvereinen allerdings wirklich nicht sofort.
Die Spielmannszüge sind in einigen Bremer und Bremerhavener Turnvereinen ein wichtiges Standbein. Vor unserem Jubiläums-Festakt am Mittwoch wird „Da Capo“ vor dem Rathaus spielen. Da sehen Sie, dass das Musizieren ein fester Bestandteil und auch Kulturgut im Deutschen Turnerbund ist.
Und Sie haben keine Sorge, dass Fitnessstudios oder andere trendige Sportarten den klassischen Turnverein irgendwann überflüssig machen?
Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Natürlich gibt es immer wieder hippe Trends, die sich schneller kommerziell vermarkten lassen. Aber keine Bewegung der Welt kann den Turn- oder Sportverein ersetzen. Weil ein Turnverein so unglaubliche wertvolle Arbeit in unserer Gesellschaft leistet. Diese sozialen Aufgaben, diese Gemeinschaftsarbeit stehen nicht im Vordergrund, haben aber einen hohen Wert für unsere Gesellschaft. Was glauben Sie, was für soziale Arbeit ein Turnverein zum Beispiel für ältere Menschen leistet. Das ist gerade in der Pandemiezeit sehr deutlich geworden. Das ist unbezahlbar und unbezahlt.
Aber in der Politik ringt der Sport immer wieder um Akzeptanz.
Ja, da ist was dran, wir können viel mehr Akzeptanz und Anerkennung gebrauchen. Gerade die Pandemie hat viele Schwachstellen offengelegt, wenn ich an Turnhallen denke, in denen sich die Fenster gar nicht mehr öffnen lassen oder Umkleideräume veraltet sind. Und wenn ich dann lese, dass für die Instandsetzung von Fußballplätzen 750.000 Euro investiert werden, frage ich mich schon, was wir eigentlich als Turner und Gymnastinnen davon haben.
Wie meinen Sie das?
Wir können nicht im Freien turnen, wir brauchen funktionstüchtige Hallen und entsprechende Geräte. Dafür setze ich mich ein.
Angenommen, Sie könnten die gute Fee spielen und Ihren Turnverband zum Jubiläum beschenken: Was würde auf dem Geburtstagstisch liegen?
Da muss ich nicht lange überlegen. Auf jeden Fall die Wiedereinführung des Sportstudienganges an der Bremer Universität. Dann hätten die Vereine endlich wieder die Möglichkeit, mehr qualifizierte Übungsleiter zu bekommen, denn die fehlen uns ohne Ende. Und ich würde die eine oder andere Sporthalle bauen lassen. Beim TuS Huchting etwa haben wir mit Karina Schönmaier eine überragende Turnerin, da wäre es schön, wenn sie auch die entsprechenden Rahmenbedingungen hätte in einer funktionierenden Halle.
Hätten Sie noch mehr Geschenke?
Bei anstehenden Sanierungen oder Neubaumaßnahmen an der Universität muss der Bundesstützpunkt der Rhythmischen Sportgymnastik erhalten und weiter gefördert werden. Für uns als Bremer Turnverband ebenfalls eine vorrangige Aufgabe.
Was sind die größten Aufgaben, vor denen die Turnverbände stehen?
Wenn wir den Leistungsbereich betrachten, der zugegeben nur einen kleinen überschaubaren Teil der Vereins- und Verbandsarbeit darstellt, brauchen alle Sportarten Medaillen, um Gelder aus den Fördertöpfen zu bekommen. Aber die Frage ist: Wo setzen wir die Grenzen? Wollen wir Leistung um jeden Preis oder Leistung mit Respekt? Darüber müssen wir uns in Bezug auf Leistungssport immer wieder intensiv Gedanken machen.
Das Gespräch führte Mathias Sonnenberg.