Kürzlich, erzählt Kenny De Ketele, seien Michel Vaarten und er ein Derny-Rennen in London gefahren und hätten ein Problem gehabt. Zumindest habe er, De Ketele, geglaubt, sie hätten dieses Problem.
Lasse Norman Hansen, der Olympiasieger von 2012, war ihnen enteilt, 40, 50 Meter weit. Als De Ketele hochschaute und merkte, wie groß sein Rückstand auf den Rivalen war, da dachte er: „Oha, das wird weh tun, den zu überholen.“ Er fürchtete, der Rückstand könne zu groß sein, um überhaupt noch eine Chance zu haben. Am Ende aber hat das Überholmanöver doch noch perfekt funktioniert. Denn der Schrittmacher Vaarten hatte gespürt, dass Hansens Tempo zu hoch war. De Ketele sagt: „Als wir ihn überholten, brach er zusammen.“ Er weiß, ihn hätte das gleiche Schicksal ereilt, wenn Vaarten im falschen Moment beschleunigt hätte: „Dann wären meine Beine explodiert.“

Michel Vaarten
Wer sich mit den Belgiern De Ketele (30) und Vaarten (59) unterhält, der ahnt, warum die Derny-Rennen, diese Mischung aus Radsport und Motorsport, eine so reizvolle Disziplin sind – und warum Erik Weispfennig, der Sportliche Leiter der Bremer Sixdays, sie bei seinem Amtsantritt 2012 wieder ins Programm genommen hat und auch künftig nicht missen mag.
Der Radrennfahrer De Ketele sagt, Derny-Rennen seien sehr speziell: „Sie sind individuell, aber auch wieder nicht individuell.“ Er könne nur gewinnen, wenn seine persönliche Performance perfekt sei – und zugleich die Teamarbeit mit seinem Partner. Nur wenige Duos beherrschen diese Teamarbeit so gut wie die beiden Belgier, die in Bremen gerade mal wieder nach dem Sieg streben. Das liegt vor allem daran, dass sie sich seit Ewigkeiten kennen.
Vor 13 Jahren sind sie das erste Mal zusammen gefahren; Vaarten war damals belgischer Nationaltrainer, De Ketele ein aufstrebendes Talent. 2009 haben die beiden bei der Europameisterschaft in Gent ihr erstes gemeinsames Derny-Rennen probiert – und gleich den Titel gewonnen. 2015, bei der Europameisterschaft in Hannover, wiederholten sie ihren Triumph. Er sei schon früher, als Radprofi, ein Gewinner gewesen, und jetzt, als Schrittmacher, sei er wieder ein Gewinner, sagt Vaarten. Das sei auch gut so: „Denn ich bin ein wirklich schlechter Verlierer.“
Das gewisse Extra
Aber er ist eben nicht nur ein schlechter Verlierer, sondern vor allem auch ein guter Sportler. Als Radprofi ist er Weltmeister geworden und hat Silber bei Olympischen Spielen geholt. Als Schrittmacher profitiert er von dieser Vergangenheit. Er hat sich das Gefühl für die richtige Geschwindigkeit bewahrt; er kann ein Rennen lesen; er weiß, wann es Zeit ist, einen Angriff zu starten und wann man besser in der Gruppe bleibt. „Dieses Gefühl ist das gewisse Extra“, sagt Vaarten. „Es ist eine Gabe. Entweder hat man dieses Gefühl – oder man hat es nicht.“
Das Gefühl hilft ihm, De Ketele so durchs Rennen zu führen, wie der es braucht. Denn das betonen beide: dass Vaarten, der Derny-Pilot, der Vordermann, führt. „Ich entscheide über die Taktik. Ich entscheide über die Linie, die wir fahren. Ich entscheide über die Geschwindigkeit. Und Kenny muss folgen“, sagt Vaarten. De Ketele betont, er würde niemals eine Diskussion über die Taktik mit seinem Partner beginnen: „Er ist der Boss.“

Kenny De Ketele
Doch wie geht das: Boss und Bossversteher zu sein, bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von mehr als 60 km/h und im Geknatter der Motoren? Wie kommunizieren die zwei Belgier? Wie sagt der eine dem anderen, was zu tun und zu lassen ist? „Wir kommunizieren nicht“, sagt De Ketele. Nur ganz selten gebe sein Partner ihm ein Zeichen. Vaarten wiederum hat den Mann, den er hinter sich hat, gebeten, so wenig wie möglich zu reden. Nur wenn das Tempo ihm wirklich zu schnell sei, solle er „Ho!“ rufen. Denn der Lärm im Rennen sei einfach zu arg: „Letztlich kann ein Fahrer jeden Mist erzählen – und du verstehst ihn sowieso nicht.“
Also versuchen die beiden Belgier, sich ohne Worte alles zu sagen. „Wir verstehen uns blind“, berichtet De Ketele. Vaarten ergänzt: „Kenny hat komplettes Vertrauen in mich, und ich habe komplettes Vertrauen in Kenny. So funktioniert’s.“ De Ketele wiederum findet, sein Partner habe dieses Vertrauen total verdient. Weil er kann, was er kann – und weil er ist, wer er ist. „Er weiß, wie es sich anfühlt, wenn dein Bein brennt nach einem harten Rennen. Das ist ein großes Plus: dass er weiß, was ich fühle“, sagt der Radfahrer über seinen Schrittmacher.
Zudem besitze Vaarten die Fähigkeit, stets die beste, die angenehmste Linie auf der Bahn zu finden: „Die Bahn ist ja oval, aber er schafft es, dass sie sich für mich wie ein Kreis anfühlt.“ Deshalb müsse er auch in den Kurven nicht extra treten und auf den Geraden nicht bremsen. Die Kraft, die er aufwende, sei immer gleich, so De Ketele: „Ich wette, wenn wir einen Kraftmesser an mein Rad anschließen würden, würde er fast immer die gleiche Kraft anzeigen.“
Weispfennig, der Bremer Sixdays-Leiter, schwärmt: „Vaarten und De Ketele harmonieren perfekt.“ Die beiden Fahrer erklären, wann sie diese Perfektion selbst spüren. De Ketele sagt: „Wenn ich das Rennen gewinnen kann, ohne mich total zu verausgaben. Wenn ich nach dem Rennen zu Michel sagen kann, ich hätte noch weiter fahren können.“ Vaarten sagt: „Wenn Kenny für den Sieg nicht 100 Prozent geben muss, sondern nur 80 Prozent.“ Wann diese 80 Prozent erreicht sind, das weiß Vaarten genau – und weil er es so genau weiß, kann er gelassen bleiben.
„Man darf nie in Panik verfallen, wenn man mal in einer schlechten Position ist“, sagt er. Es helfe auch nichts, vor dem Start tausend Pläne zu schmieden. Denn am Ende komme doch alles anders, als man denkt: „Im Rennen muss man improvisieren. Man muss schauen, was der richtige Weg ist. Meistens kenne ich diesen richtigen Weg.“ Sein Job sei schwer zu erklären, findet Vaarten: „Für die meisten Zuschauer sieht es aus, als müsse ich nur Gas geben – und sonst nichts.“ Dabei müsse der Schrittmacher in Wahrheit so viel mehr, sagt De Ketele: „Und es ist alles eine Frage des Gefühls.“
Noch hat Vaarten genug Gefühl, noch fühlt er sich nicht zu alt für seine Schrittmacher-Rolle. Manchmal plagten ihn Rückenprobleme, sagt er, aber das sei halb so wild. Er fährt Rennen, seit er ein Kind gewesen ist, er mag noch nicht davon lassen. Er will weitermachen, „so lange mein Körper es aushält“. Im Sommer fährt er mit De Ketele an den Wochenenden ein paar Rennen, im Winter ein paar Sixdays. Zwischen all den Rennen, in seinem normalen Leben, arbeitet Vaarten als Verkäufer in einem Fahrradgeschäft. Wie schnell er selbst noch ist, auf dem Rad? „Auf einem normalen Rad?“, fragt Vaarten. „Ich fahre kein normales Rad. Ich fahre ein E-Bike.“ Er nutzt es für den Weg zur Arbeit, 15 Kilometer hin, 15 Kilometer zurück. Er findet: „Das ist nicht so schlecht.“
Einmal aber hat Vaarten, der Mann, der im Radsport so vieles gut und richtig und erfolgreich gemacht hat, zuletzt doch verloren. Beim Sechstagerennen in Rotterdam, das direkt vor den Sixdays in Bremen endete. In Rotterdam sind die Paare für jedes Derny-Rennen neu ausgelost worden, und Vaarten und De Ketele sind kein einziges Mal gemeinsam gefahren. Auch im Finale mussten sie gegeneinander antreten – mit ihren jeweiligen Partnern. Am Ende hat De Ketele gewonnen, und Vaarten ist Zweiter geworden. Wie war das für ihn, den so schrecklich schlechten Verlierer? Michel Vaarten lacht, als er diese Frage hört. Dann sagt er: „Ach, wissen Sie: Kenny ist mein Freund. Ich könnte nie böse auf ihn sein.“
Programm am Dienstag
Abendprogramm
19.00 Uhr: Vorstellung der Sixdays-Fahrer
19.15 Uhr: Ausscheidungsfahren
19.30 Uhr: Kleine Jagd
20.10 Uhr: Sprinter Rundenrekord
20.25 Uhr: Paracycling
20.35 Uhr: 500-Meter-Zeitfahren
21.00 Uhr: Paracycling
21.10 Uhr: Sprinter Keirin
21.15 Uhr: Derny Gesamtwertung, anschl. Gesamtsiegerehrung
21.30 Uhr: Sprinter 1. Rennen
21.40 Uhr: Mannschaftsausscheidung
22.05 Uhr: Große Jagd, Gesamtsiegerehrung
22.10 Uhr: Sprint Finale, anschl. Siegerehrung
22.20 Uhr: Aufstellung zum Finale der 52. Sixdays Bremen
22.25 Uhr: Finaljagd über 60 Minuten
23.30 Uhr: Gesamtsiegerehrung
23.50 Uhr: Ende der 52. Sixdays Bremen