„Ein ganz besonders schönes Format“, so bezeichnet Tina Echterdiek, Leiterin der Zentralbibliothek, die Veranstaltung "Lyrik grenzenlos!". „Weil die Menschen im Mittelpunkt stehen: mit ihrer Sprache, ihrer Geschichte, ihrer Individualität.“ Und diese Menschen erhalten zweimal im Jahr einen Raum, um in der Zentralbibliothek Am Wall Gedichte und Geschichten vorzutragen.
Dieser Raum ist dabei nicht nur der zeitliche Rahmen, sondern auch der reale Raum in der Bibliothek: Direkt im Lesesaal, in einem jederzeit zugänglichen Raum nahe des Eingangsbereichs, wird vorgetragen. Auch, um jedem Besucher der Bibliothek die Teilnahme zu ermöglichen, ganz gleich, ob als Zuschauer oder Vortragender. „Dieses Mal haben sich ganz besonders viele Menschen angemeldet, die vorher noch nicht vorgetragen haben. Es ist bei uns sehr niedrigschwellig. Die Leute erfahren bei "Lyrik grenzenlos!" eine große Wertschätzung – und selbst Kinder sind dabei“, sagt Echterdiek. Mit Mirko Hoppe als Musiker mit Gitarre und Gesang ist dann auch ein hauseigener Mitarbeiter dafür zuständig, für musikalische Abwechslung zu sorgen – und auch der Fotograf ist Teil des Stadtbibliothek-Teams.
Viele Themen, viele Sprachen
Überdies setze der Tag der Veranstaltung auch ein Zeichen: Es ist der Internationale Tag der Muttersprache. Tina Echterdiek sagt, dass der Tag ein wichtiges Zeichen sei – ein Zeichen, „dass Vielfalt und der Mensch selbst wertgeschätzt werden. Für uns als Stadtbibliothek ist es eigentlich banal zu betonen, doch wir zeigen, dass Vielfalt für uns normal ist.“ Vielfältig sind dann auch die Sprachen: Neben Deutsch ist da unter anderem Englisch, Afrikaans, Spanisch, Bulgarisch, Bengalisch, Griechisch und Französisch unter den insgesamt 15 angemeldeten und spontanen Vorträgen dabei. „Viele Themen, viele Sprachen, es geht aber immer um die Schönheit der Sprache“, sagt Tina Echterdiek. „Und durch alle Geschichten zieht sich: die Liebe.“
So einige Menschen sind nicht zum ersten Mal mit dabei. „Ich bin Stammkundin“, sagt etwa die aus Nigeria stammende Clara Meierdierks über sich und lacht. Ihr Text handelt von der Gefährlichkeit, entweder in der Heimat zu bleiben oder sie zu verlassen, und Meyerdierks trägt ihn auf Deutsch, Englisch und Igbo vor, einem nigerianischen Dialekt. „Ich schreibe eigene Gedichte und auch Bücher über meine eigene Geschichte“, erzählt sie. „Durch das Schreiben habe ich gelernt, Einiges zu verarbeiten – es waren nicht so schöne Erlebnisse.“

Die Liebe spielt auch im Text von Farhan Hebbos eine Rolle. In die Stadtbibliothek begleitet hat ihn seine Mutter Muntha Othman.
Ein Buch von ihr mit dem Titel „My roots, my pain“ handelt von der Präsidentschaftswahl in Nigeria vor acht Jahren. „Was man damals gehofft hat und was dann dabei herausgekommen ist. Es geht um die Machtlosigkeit der Leute.“ Damals habe sie die Nachrichten aus Nigeria von Deutschland aus verfolgt: „Manche Nachrichten aus der Heimat waren zu schmerzhaft, daher ist dann das Buch entstanden." Ihre Texte handeln vom Hinfallen und vom Aufstehen, „das Leben ist voller Herausforderungen“, meint sie. Und aus der Sicht als Emigrantin: „Wir wissen, woher wir kommen, und manchmal stärkt es mich: Wo ich war und wo ich jetzt bin. Ich schaue nach vorne.“ Allen, die herkommen, sage sie: "Man muss versuchen, sich zu integrieren. Das nimmt zwar nicht den Schmerz, doch es macht es leichter.“
Leicht hätten es sich auch die 13 Jahre alte Jonna und der 14-jährige Milan machen können: zu Hause bleiben, fernsehen, shoppen. Doch Jonna und Milan vom Gymnasium Horn tragen stattdessen Shakespeares „Sonett 116“ vor – im Original. „Normalerweise haben wir immer auf Deutsch vorgetragen“, erzählt Jonna. Doch bei Shakespeare haben sie sich anders entschieden, da sei der lyrische und sprachliche Unterschied ausschlaggebend gewesen. Milan ergänzt: „Der emotionale Aspekt hat uns sehr mitgenommen.“ Zweimal schon standen sie am blauen Pult im Lesesaal, „es gefällt uns, hier vorzutragen“, erzählt Jonna. „Wir waren mal mit der Klasse zum Zuhören hier, und seitdem machen wir das selber.“ Und außerdem, so Milan: „Nach dem Vortrag hat man etwa geschafft, dann fühlt man sich gut.“

Die aus Südafrika stammende Henrouise Michal war zum ersten Mal bei ”Lyrik grenzenlos!”.
Die Liebe spielt auch im Text von Farhan Hebbos eine Rolle. Wie die Männer die Frauen und die Frauen die Männer im Orient lieben, sei in seiner kleinen Geschichte auf Deutsch und Farsi Thema, erzählt er. „Mein Vater zum Beispiel hat zu meiner Mutter nie ,ich liebe dich gesagt'“. Doch Farhan Hebbos Geschichte offenbart, dass zum Beispiel auch ein Lob über die Kochkunst der Partnerin ein Liebesbeweis sein könne. Der Syrer Farhan Hebbo sagt über die Liebe in seinem Land: „Die Liebe läuft bei uns wie eine Brise, doch in Deutschland schreit die Liebe“, und seine Frau Muntha Ohtman nickt. Seit mehr als vier Jahren trägt Farhan Hebbo nun schon seine Texte bei "Lyrik grenzenlos!" vor, außerdem liest er regelmäßig im Sprachcafé „Marie schnackt“ im Quartierszentrum Huckelriede und im Bremer Literaturkontor vor: „Dort lese ich bald sechs Jahre.“
So weit ist die aus Südafrika stammende Henrouise Michal noch nicht: „Ich habe noch nie mitgemacht“, sagt sie. Zwar habe sie schon häufiger bei Open-Mind-Nights Texte vorgetragen, „aber nicht auf Afrikaans.“ In ihrem Text spielt die Liebe ebenfalls eine Rolle und die Schwierigkeit, die Liebe in Worte zu kleiden: Ein Junge aus einem prekären Stadtteil spricht ein Mädchen aus der Mittelschicht an. Er ziert sich, doch am Ende gesteht er ihr doch seine Liebe. „Den Text habe ich geschrieben, weil ich das Mädchen war. Das war in Stellenbosch, etwa 60 Kilometer von Kapstadt entfernt.“ Zu "Lyrik grenzenlos!" werde sie wahrscheinlich wiederkommen, meint sie. „Meine Texte sind zum Teil politisch, handeln aber auch von Trennungsschmerz.“ Sie habe sonst gesungen, doch sie habe mal ein eigenes Café betrieben, wo sie eher weniger habe singen können: „Da habe ich dann Texte geschrieben, wenn mal weniger Gäste da waren.“