Frau Ahrndt, als Hugo Schauinsland das Übersee-Museum gründete, lautete der Leitgedanke „die ganze Welt unter einem Dach“. 125 Jahre später möchten große Teile der Welt nicht mehr einfach so unter den Dächern europäischer Museen eingemeindet werden. Wie feiert sich ein Jubiläum vor diesem Hintergrund?
Wiebke Ahrndt: Selbst wenn die Corona-Pandemie uns nicht einschränken würde, hätten wir das Jubiläum gar nicht groß gefeiert, sondern in kleineren Anlässen, über das Jahr verteilt. Den Auftakt macht am Freitag ein digitaler Dialog zwischen Hugo Schauinsland, in dessen Rolle der Schauspieler Peter Lüchinger schlüpft, und mir, zu genau dieser Frage: Was wollte er mit dem Übersee-Museum, was ist geblieben von der Idee, was ist anders?
Was ist denn geblieben?
Man macht bei uns nach wie vor eine kleine Reise um die Welt. In den meisten Herkunftsländern wissen die Menschen es zudem zu schätzen, dass wir Geschichten von ihnen bei uns erzählen. Es gibt aber inzwischen eine klare Erwartungshaltung, dass diese Geschichten von uns gemeinsam mit ihnen entwickelt werden und auch die Entstehungsgeschichte der Sammlung als etwas Gemeinsames verstanden wird. Das Übersee-Museum hat sich zudem schon immer stark zur Gegenwart geäußert, das ist unser besonderes Kennzeichen.
Andere Häuser wie das jüngst digital eröffnete Humboldt-Forum in Berlin haben mit handfesten Skandalen zu kämpfen, weil Herkunftsländer Exponate aus der Kolonialzeit zurückfordern, in diesem Fall Nigeria die sogenannten Benin-Bronzen. Von solchen Diskussionen ist das Übersee-Museum tatsächlich unbehelligt geblieben?
Wir sind ja nicht geschichtsvergessen. Natürlich sind die Sammlungen zum großen Teil sehr alt, sie stammen aus kolonialen Kontexten, aber es geht uns vor allem um die Menschen heute. Und von den Communities aus den Herkunftsländern erhalten wir sehr großes positives Feedback zu dem Konzept, den Schwerpunkt auf die Gegenwart zu legen. Die sind begeistert davon, dass sie in Bremen, in Deutschland, präsent sind, dass sich Menschen hier für ihr Leben interessieren.

Der Lichthof des Übersee-Museums mit der Ausstellung zu Ozeanien im Jahr 1979.
An was machen Sie diesen Eindruck fest?
Ganz konkret an unserer Zusammenarbeit mit Samoa. Hier starten wir offiziell ab dem 1. März eine Kooperation für die Überarbeitung der Ozeanien-Ausstellung. Und die Samoaner wünschen gar keine Rückgabe von Objekten, überhaupt nicht. Sie möchten die Objekte nur digital zur Verfügung haben, um mit uns zusammen die Geschichte der Sammlung neu aufzubereiten. Die Samoaner erwarten von uns, dass wir uns mit den Fragen befassen, die die Menschen vor Ort umtreiben.
Sind Sie da weiter als vergleichbare Museen?
Sicher nicht in dem Konzept, Menschen aus Herkunftsländern einzubeziehen; das gibt es in anderen Häusern auch. Vorreiter sind wir bei unserem Projekt, eine Ausstellung vom ersten bis zum letzten Tage gemeinsam mit Vertretern von Herkunftsgesellschaften zu konzipieren: Ozeanien virtuell. Ergebnisse sollen in die neu konzipierte Dauerausstellung im Haus einfließen. Mit dabei sind ein samoanischer Kurator und die National University of Samoa. Auch das Te Papa-Museum in Wellington, Neuseeland, dem wir 2017 menschliche Überreste zurückgegeben haben, ist stark interessiert. Ende 2023 soll die Ausstellung online gestellt werden.
Das könnte auch bedeuten, dass mehr Besucher als bisher ihr Haus besuchen - die einen ganz in der realen, die anderen in der virtuellen Welt.
Ich sehe das als eine Form der Demokratisierung von Wissen und eine neue Form von Teilhabe. Beide Arten der Präsentation können auf ihre ganz eigene Art zur Auseinandersetzung anregen – und sich ergänzen. Derselbe Sammlungsbestand kann sich auf unterschiedliche Arten erschließen.
Die Ozeanien-Dauerausstellung stammt von 2003 und war jetzt an der Reihe, überarbeitet zu werden. Ozeanien virtuell kommt obendrauf – gab es dafür eigene Fördermittel?
Ozeanien virtuell wird vollständig durch Drittmittel finanziert, insbesondere durch die Karin- und Uwe-Hollweg-Stiftung, durch das Auswärtige Amt, aber auch durch die Waldemar-Koch-Stiftung und weitere Förderer. Das sind Kosten von ungefähr 1,08 Millionen Euro. Für die Überarbeitung der Ausstellung im Haus haben wir Bundesmittel bekommen und brauchen natürlich eine Gegenfinanzierung durch die Stadt.
Gibt es da schon eine Zusage?
Nein, die Entscheidung fällt in den nächsten Wochen.
Könnte es nicht passieren, dass die Stadt darauf verweist, dass es ja demnächst die virtuelle Ausstellung gibt und die Neuausrichtung der Schau vor Ort im Haus dann vielleicht nicht ganz so dringend ist?
Das will ich nicht hoffen. Die Neueröffnung ist für 2024 geplant, dann steht die jetzige Ausstellung schon viel länger, als das je geplant war. Die Fragen, die uns heute umtreiben sind andere als die, die uns 2003 beschäftigt haben.
Was ist heute wichtig?
Vor allem, was der Klimawandel für Ozeanien bedeutet. Es ist hochdramatisch, was sich da abspielt; in zehn Jahren gehen die ersten Inseln unter, in 30 Jahren die ersten Staaten. Was passiert mit der reichhaltigen Tier- und Pflanzenwelt, welche Migrationsbewegungen wird das alles auslösen? Im Südpazifik lebt jetzt schon jeder zweite Mensch nicht mehr dort, wo er geboren wurde – wie wirkt sich das auf Gesellschaften und deren Kultur aus? Das ist alles in der jetzigen Ausstellung angerissen, steht aber nicht im Mittelpunkt. Ich bin optimistisch, dass das auch von den Geldgebern so gesehen wird. Die Bundesmittel betragen 2,25 Millionen Euro, diese Summe müsste Bremen auch aufbringen, allerdings aufgesplittet auf mehrere Jahre.
Das Übersee-Museum präsentiert sich dadurch als modernes..., ja was eigentlich? Völkerkundemuseum ist ja als Begriff ausgemustert worden.
Wir sind ein Haus, das für Vielfalt stehen will. Vielfalt der Natur, der Kulturen, und wir wollen bewusst positive Akzente setzen und auch einen emotionalen Zugang ermöglichen. Es ist immer leichter zu sagen, man ist gegen etwas und schwieriger zu sagen, man ist für etwas. Wir möchten zeigen, dass es sich lohnt, sich einzusetzen.
Wie genau soll das passieren?
Wenn wir beim Beispiel Ozeanien bleiben – das umfasst ein Drittel der Erdoberfläche. Wir möchten einen Hängenden Garten präsentieren, es soll einen Indoor-Wasserfall geben. Unter der Lichtkuppel soll ein Schwarm an Fischen und Meerestieren über unseren Köpfen segeln – das kommt zu den ja sowieso beeindrucken Objekten hinzu, die wir haben, das große Auslegerboot beispielsweise. Und übrigens auch die räumlichen Möglichkeiten mit einem 17 Meter hohen Lichthof. Wir möchten eine Inszenierung schaffen, in die man eintritt und beeindruckt ist von der Schönheit.
Das Gespräch führte Iris Hetscher.
Wiebke Ahrndt hat Ethnologie und Altamerikanistik in Göttingen und Bonn studiert. Die 57-Jährige leitet, nach einer Station in Basel, seit 2002 das Übersee-Museum.
125 Jahre Übersee-Museum
Als Gründungsdatum des Übersee-Museums gilt der 15. Januar 1896, sein erster Direktor Hugo Schauinsland wollte in der Einrichtung Völker-, Handels- und Naturkunde unter einem Dach versammeln. Und: Das Museum sollte sich gleichermaßen an Wissenschaftler wie an Laien richten. Außer für seine Sammlungen und Sonderausstellungen ist das Haus bekannt geworden für das Aquarium und die Terrarien, die bis in die 1970er-Jahre zu sehen waren, für das „Kindermuseum“, das in den 1950er-Jahren eingerichtet wurde und für das „Übermaxx“-Schaumagazin, das es seit Ende der 1990er-Jahre gibt. Mit der eigenen Geschichte befasste sich das Museum kritisch im Herbst 2019: „Spurensuche“ beleuchtete auch den Kolonialismus und die Zeit des Nationalsozialismus.
Das jetzige Jubiläum begeht das Haus derzeit notgedrungen online auf seiner Website www.uebersee-museum.de. Ab Freitag, 15. Januar ist hier ein Gespräch zwischen Direktorin Wiebke Ahrndt und Hugo Schauinsland, dargestellt von Peter Lüchinger, zu finden. Außerdem können Besucher ihre Wünsche für die Zukunft an zeitkapsel@uebersee-museum.de mailen. Diese Wünsche, wie das Übersee-Museum in 25 Jahren aussehen soll, werden in eine Zeitkapsel gepackt, die zum Ende des Jubiläumsjahrs verschlossen und im Museum deponiert wird. Am 15. Januar 2046 soll sie anlässlich des 150. Jubiläums wieder geöffnet werden.