Ingrid Bischoff ist eine eher zierliche Frau, 92 Jahre ist sie alt. Sie sitzt auf ihrem Sofa in einem Mehrgeschossbau der Gewoba in der Neuen Vahr Nord, dezente Weihnachtsdekoration. Sie hat etwas zu erzählen, vom Krieg, von der Flucht, vom Ankommen in einem kleinen Bauerndorf bei Ottersberg. Neben ihr sitzt Eva Maria Möbus, hört zu, nickt. Sie kennt die Geschichten, die beiden verbringen häufig Zeit miteinander, denn Möbus ist Vahrer Löwin und besucht ehrenamtlich Senioren in der Vahr. Vor Weihnachten sind diese Besuche besonders wichtig, wie sich im Gespräch zeigen wird.
In der Vahr wohnen annähernd 27.000 Menschen, 22,2 Prozent davon sind nach Angaben des Statistischen Landesamts 65 Jahre oder älter. Viele von ihnen haben eher wenige soziale Kontakte, leben isoliert in ihren Wohnungen. Von einer "Epidemie der Einsamkeit" sprechen Experten, die in den vergangenen Jahren dem Thema, das sich während der Corona-Epidemie noch einmal verstärkt hat, mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben. Es gilt als sicher, dass Einsamkeit krank macht, den Lebenswillen rauben kann.

Larissa Gering koordiniert die aufsuchende Altenarbeit der Vahrer Löwen.
Ziel: Teilhabe ermöglichen
Die Vahrer Löwen wollen diese Einsamkeit durchbrechen und den Seniorinnen und Senioren eine Teilhabe ermöglichen. Freizeitbegleitung und Hausbesuche mit und durch Ehrenamtliche, aber auch Angebote und Treffs kennzeichnen die Arbeit der Löwen, die seit 2014 in der Vahr aktiv sind, seit 2018 machen sie auch Hausbesuche.
Auch Ingrid Bischoff hatte mit Einsamkeit zu kämpfen. "Ich saß ganz alleine in meiner Wohnung, und ich war ganz unten", erzählt sie. Dann klingelte das Telefon. Larissa Gering, Koordinatorin bei den Vahrer Löwen, war am Apparat. Ob es ihr gut gehe, habe sie gefragt, beschreibt Bischoff die Situation. "Da habe ich gedacht, ich sag' die Wahrheit." Ihre ehrliche Antwort damals: "Nein, es geht mir nicht gut." Heute sagt sie: "Heute mache ich alles, was möglich ist. Ich gehe zum Löwen-Schnack, zum Chor, zum Smartphone-Kurs, zum Feierabend-Projekt." Das Smartphone bedienen können, das möchte sie lernen, auch wenn es nicht mehr ganz so leicht fällt. "Ich merke, dass mir das Alter zu schaffen macht", sagt sie.
Gerade jetzt, vor Weihnachten, sei die Freizeitbeschäftigung besonders wichtig. "Es ist gut, wenn ich etwas zu denken habe", sagt Bischoff. Vor einigen Jahren ist ihr Mann gestorben, am 2. Weihnachtstag. "Ich dachte, ich werde in der Nacht auch sterben, es tut heute noch weh", sagt die am 1. Dezember 1931 in Frankfurt an der Oder geborene Bischoff. Die Löwen seien deswegen "überlebenswichtig" für sie gewesen.
Möbus begleitet sie bei den Aktivitäten, übernimmt den Fahrdienst, fährt Ingrid Bischoff zum Arzt, zum Einkaufen. "Sie könnte da sonst nicht hin", sagt die Ehrenamtliche. Seit eineinhalb Jahren sehen sich die beiden Frauen regelmäßig, inzwischen hat sich über das ehrenamtliche Engagement eine Freundschaft entwickelt.

Annegret Eisenbarth und Lydia Wöbken Klönen und Spielen gerne.
Eine Biografie deutscher Geschichte
Deswegen kennt Möbus auch die Lebensgeschichte von Ingrid Bischoff. Die Evakuierung aus Frankfurt an der Oder 1945, der Transport über Berlin bis hin zu einem kleinen Dorf bei Ottersberg. Der Verlust, die Jahre des Mangels – an all dies kann sich Bischoff detailreich erinnern. Später arbeitete sie bei Desma in Achim, bei Borgward und Nordmende in Bremen, 2010 folgte der Umzug von Achim in die Vahr. Möbus hört die Geschichten gerne, auch wenn sie sie schon kennt. "Ich liebe es, die Geschichten zu hören", sagt sie. Beinahe ein Jahrhundert deutscher Geschichte verdichtet im Leben von Bischoff, die eigentlich selbst andere unterstützen möchte. "Wäre ich 20 Jahre jünger, würde ich gerne helfen, aber die Kraft reicht nicht mehr", sagt sie. Dann ist die Zeit um, die beiden wollen noch einkaufen. Berliner Freiheit oder Weserpark, so ganz sind sie sich nicht einig. "Du bestimmst, wo wir hinfahren", sagt Möbus.
Es geht weiter durch die vorweihnachtliche Vahr mit Löwen-Koordinatorin Larissa Gering. Ein bis zwei Senioren besuchten die Ehrenamtlichen in der Regel. Der Bedarf ist aber offenbar höher. "Wir suchen noch Ehrenamtliche", sagt Gering. "Es gibt mehr Anfragen, als wir Kapazitäten haben." Insbesondere für Fahrdienste brauche es weitere Angebote.
Ein weiteres mehrgeschossiges Wohnhaus, ein eher anonymer Klotz. Dort wohnt Annegret Eisenbarth, zu Besuch ist Löwin Lydia Wöbken. "Wir trinken Kaffee, wir klönen und wir spielen", beschreibt Eisenbarth die Zeit mit Wöbken. Auf dem Tisch im Wohnzimmer mit dem Bücherregal mit den indonesischen Stabpuppen und zahlreichen Klassikern und aktuellen Büchern liegen Spielsteine, Tridomino heißt das Spiel.
Wie der Kontakt zu den Löwen entstand? Ausschlaggebend war der Verlust der Fahrtüchtigkeit durch ein Nervenleiden im Bein für die eigentlich aktive Frau, die bis dahin Konzerte und Theater besuchte. "Ich war vollkommen allein und hatte eine Riesendepression", erinnert sich Eisenbarth. Langsam sei sie aus dem seelischen Tal herausgekrochen. "Ich habe mir dann Hilfe gesucht." 2022 habe sie einen Brief von der damaligen Sozialsenatorin Anja Stahmann erhalten, der an alleinstehende Senioren gerichtet war. "Und dort stand unter anderem die Adresse der Vahrer Löwen drin." Der Brief habe dann schon etwas gelegen. "Ich war es nicht gewohnt, Hilfe anzunehmen, das war schwer, aber jetzt kann ich das."
Für Annegret Eisenbarth ist Weihnachten eher keine Zeit zum Feiern. "Ich bin froh, wenn Weihnachten vorbei ist", sagt sie. Heiligabend höre sie Musik, früher habe sie an dem Tag ihren Bruder besucht. "Aber es war ganz schlimm, dann in die Wohnung zu kommen."
Seit einem Jahr trifft sie sich mit Lydia Wöbken, und bei dem Besuch ist zu spüren, dass die beiden sich ergänzen. Alleine verlässt Eisenbarth die Wohnung nicht gerne. "Ich habe Angst, dass ich es nicht mehr nach Hause schaffe", sagt die 87-Jährige. Nun verbringt sie die Zeit mit Lesen, mit Rätseln – und beim Klönen und Spielen mit Lydia Wöbken. Ein Gewinn für beide Seiten, sagt Wöbken. "Ich kann nicht arbeiten, aber mir fiel die Decke auf den Kopf und ich brauche Struktur in meinem Alltag." Der Austausch mit anderen Menschen und das Gefühl, etwas Gutes zu tun, sei der Lohn ihrer ehrenamtlichen Arbeit, bekräftigt sie. "Wie eine Tochter bist du", sagt Eisenbarth und legt kurz ihre Hand auf Wöbkens Arm. Eine kleine, aber bezeichnende Geste.