Es sieht, langfristig gesehen, nicht gut aus. Arne Wittkop weiß das. Erst hat er zwei Hohlräume im Stamm gezählt, jetzt sind es drei. Und trotzdem steht der Baum mit der Nummer 92049/1270/55, eine Rotbuche, immer noch am Ende der Tidemannstraße in Vegesack. Und wird dort auch weiterhin stehen. Wie lange, kann der Chef des Umweltbetriebs in Nord nicht sagen. Nur dass sie jetzt im kürzesten Takt, den die Baumkontrolleure haben, überprüft wird – und auch in dieser Fällsaison nicht fallen wird.
Um sie stand es schon häufiger kritisch. Man könnte sagen, dass die Buche eine alte Patientin ist. Sie steht seit mehr als 200 Jahren. Und ist immer wieder ein Fall für die Gutachter. Vor zwei Jahren wurden an dem 20 Meter hohen Baum mithilfe von Zugseilen unterschiedlich starke Windböen simuliert und mittels Sensoren seine Widerstandskraft gemessen. Mit dem Ergebnis: Die Krone musste gestutzt werden, damit sie bei Sturm nicht abbricht. Im Vorjahr waren die Männer mit dem Steiger wieder da, um Äste zu kürzen – und die Standzeit des Baumes zu verlängern.
Wittkop nennt die Rotbuche inzwischen einen Habitatbaum. Sie stirbt, ist aber immer noch Lebensraum für andere: Insekten, Vögel, Eichhörnchen, Fledermäuse. Auch deshalb soll 92049/1270/55 stehen bleiben. Und weil der Baum eben nicht macht, was andere Bäume machen, die am Sterben sind und deshalb gefällt werden: eine Gefahr darstellen. Um die Sicherheit zu gewährleisten, wird die Buche inzwischen alle sechs Monate von unten bis oben untersucht. Vor zwei Jahren war der Rhythmus, in dem die Kontrolleure wiederkamen, noch doppelt so lang.

Mehr als 200 Jahre alt und 20 Meter hoch: Die Rotbuche im Größenvergleich. Hinter ihr wächst seit Kurzem der Ersatz. Er kommt auf fünf Jahre und zwei Meter.
Eine Zahl, wie viele Bäume im Norden im selben Takt wie die Rotbuche in Vegesack geprüft werden, kann Wittkop ad hoc nicht nennen. Er geht davon aus, dass es viele sind – und dass es immer mehr werden. Er spricht vom Klimawandel. Vom Stress, den die Trockenperioden bereiten. Und davon, dass sich dieser Stress von Jahr zu Jahr potenziert. Bis die Bäume anfangen, immer später auszutreiben und immer früher ihre Blätter zu verlieren. Bis ihre Widerstandskraft nachlässt und sich Pilze ausbreiten. Bis sie irgendwann nicht mehr sicher stehen können.
In Hemelingen müssen in dieser Saison 522 Bäume gefällt werden
Der Referatsleiter zeigt auf einen Stumpf, der nahe der Buche übrig geblieben ist. Er sagt, dass das mal eine Eiche war. Und dass sie wegmusste. Absterbend. Das Wort taucht in den Tabellen von Kerstin Doty häufig auf. Genauso wie ein anderer Befund: Pilzbefall. Oder Sturmschaden, Schräglage, Schädling. Die Sprecherin des Umweltbetriebs hat zusammengetragen, wie viele Bäume im Norden von Oktober bis Februar gefällt werden. Und auch, warum. Nach ihren Zahlen müssen in Blumenthal die meisten Bäume weg: 78. Und in Vegesack die wenigsten: 29. In Burglesum sind es 37.
Im Vergleich zu anderen Stadtteilen ist das wenig. In Hemelingen etwa werden in dieser Saison 522 Bäume gefällt, in Horn-Lehe 284, in der Vahr 226. Und überall könnten noch welche dazukommen. Dotys Statistik ist eine vorläufige Statistik. Sie spiegelt ausschließlich die Fällungen wider, die von den Teams des Umweltbetriebs im Vorjahr geplant wurden – wie viele es tatsächlich sind, weiß die Unternehmenssprecherin erst im März, wenn klar ist, ob es in der Zwischenzeit irreparable Schäden an weiteren Bäumen beispielsweise durch Stürme und Verkehrsunfälle gegeben hat.
Oder dadurch, dass Anwohner zur Säge greifen und so viel wegschneiden, dass Wittkops Leute am Ende nichts mehr machen können als zu fällen. Er und Doty sagen, dass das immer wieder vorkommt. Nicht nur bei Straßenbäumen, die der Stadt gehören, sondern auch auf privaten Grundstücken. Im ersten Fall rückt der Umweltbetrieb an, im zweiten unter Umständen die Umweltbehörde. Zum Beispiel dann, wenn die Bäume zu einer Baumreihe gehören, die im Bebauungsplan festgeschrieben ist. Laut Doty geht es in beiden Fällen nicht selten um ein und dasselbe: Nachpflanzungen.
Auch für die gibt es eine Tabelle. Die Fällsaison ist quasi auch Pflanzsaison. Doty kommt diesmal auf 287 Ersatzbäume für die Stadt und auf 49 für den Norden. Dass das wesentlich weniger sind als gefällt werden, hat damit zu tun, dass es einen Eins-zu-eins-Ausgleich nicht gibt. Aus einem simplen Grund, wie Wittkop und die Unternehmenssprecherin sagen: Nicht überall, wo ein Baum wegmuss, kann auch ein neuer in den Boden. Mehr Straßenbäume als noch vor zehn Jahren gibt es in Bremen dennoch. Ihre Zahl ist von 69.000 auf 73.000 gestiegen.
Das Plus erklärt Wittkop mit mehr Geld fürs Grün, das zuletzt bewilligt wurde. Und damit, dass der Umweltbetrieb zukunftssicher plant und dort, wo es sich anbietet, auf widerstandsfähigere Bäume setzt. Auch auf solche, die nicht heimisch sind. Was ihm immer wieder Kritik einbringt. Wittkop sagt, dass ein Mix wichtig ist, aber an einer Lindenstraße nie etwas anderes gepflanzt wird als Linden. Auch für die Rotbuche an der Tidemannstraße gibt es als Ersatz eine Rotbuche. Sie ist schon da. Keine Hundert Meter vom alten Baum steht der neue. Fünf Jahre alt und zwei Meter hoch. Seine Nummer: 92049/1270/128.