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Verbrechen Tod im Bremer Jugendheim

Von einer Theaterprobe im Jugendheim auf der Bürgerweide kehrte Lotte Stabenow am 4. Dezember 1947 nicht mehr zurück. Als ihr Mörder wurde ein Tischlergeselle verurteilt – und zum Tode verurteilt.
03.03.2023, 05:00 Uhr
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Tod im Bremer Jugendheim
Von Frank Hethey

Zu einer Theaterprobe begab sich Lotte Stabenow am Abend des 4. Dezember 1947. Sie steuerte das  Jugendheim auf der Bürgerweide an, dort traf sich immer ihre Wandervogel-Gruppe. Die 16-Jährige war früh dran an diesem Abend, außer ihr hatte sich noch niemand eingefunden. In der abgelegenen Baracke an der Gustav-Deetjen-Allee stieß sie auf den Tischlergesellen Günther Haase. Unter dem Spitznamen "Bimbo" war der 20-Jährige in der Gewerkschaftsjugend ein beliebter junger Mann. Einmal wöchentlich vertrat er den etatmäßigen Heimleiter Gustav Böhrnsen, den Vater des späteren Bremer Bürgermeisters Jens Böhrnsen. So auch an diesem Donnerstagabend in der Vorweihnachtszeit. Wenig später war die Jugendliche tot. Als ihr Mörder wurde Haase am 1. April 1949 zum Tode verurteilt. Es war die vorletzte jemals in Bremen verhängte Todesstrafe.

Mit Händen und Füßen hatte sich die Tochter eines Prokuristen aus Horn gegen ihren Peiniger gewehrt. Unter einem Vorwand hatte Haase sie in die dunkle Werkhalle gelockt, sie sollte beim Stühletragen helfen. Als Haase sie plötzlich von hinten anfiel, leistete das Mädchen laut WESER-KURIER "energischen Widerstand", sie habe geschrien und um sich geschlagen. Allem Anschein nach pflegte Haase sich zu nehmen, was er wollte. Dabei war der Schürzenjäger nicht zimperlich, das Gericht sah ihn als brutalen Macho an. "Wohl nie vorher hatte Haase eine derartige konstante Abwehr erlebt", hieß es in der Zeitung. Die scharfe Zurückweisung brachte ihn augenscheinlich aus der Fassung. Erst versetzte er Lotte Stabenow mehrere Faustschläge, dann würgte er sie bis zur Bewusstlosigkeit.

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Im Glauben, sie getötet zu haben, ließ Haase von ihr ab und wusch sich die Hände. Da hörte er plötzlich ein Röcheln aus der Werkhalle. Mit mehreren Hammerschlägen brachte er das Mädchen zum Schweigen. Abermals säuberte er sich, wieder drang ein Röcheln an seine Ohren. Daraufhin beschaffte sich Haase aus der Werkstatt ein Stecheisen, sieben Mal stach er damit in Hals und Kopf seines Opfers. Diesmal röchelte das Mädchen nicht mehr. Die Tote schleifte Haase zu einem Bombentrichter in 20 Metern Entfernung. Eilig verscharrte er die Jugendliche unter Müll, Dreck und Erde. "Nun war ich völlig ruhig", sagte Haase vor Gericht.

Tatsächlich legte er eine erstaunliche Kaltblütigkeit an den Tag. Nur wenige Minuten nachdem er seine Spuren verwischt hatte, ging er gekämmt und gewaschen mit seiner Freundin aus. Ein Konzertbesuch stand an, tags drauf vergnügte sich Haase beim Tanzen in Oberneuland. Und hatte danach noch die Stirn, im stark angetrunkenen Zustand gemeinsam mit einigen Freunden im Jugendheim zu übernachten, dem Schauplatz seines Verbrechens – zu einem Zeitpunkt, als die Mädchen der Wandervogel-Gruppe die Nachtwache im Heim hatten. 

Tagelang tappte die Polizei im Dunkeln. Noch am Abend der Theaterprobe war die Schülerin von ihrem Vater Heinrich Stabenow als vermisst gemeldet worden, doch alle Nachforschungen liefen ins Leere. Zunächst ging man von einem Entführungsfall aus. In seiner Verzweiflung ermittelte der Vater auf eigene Faust – der 50-Jährige stellte Böhrnsen am 8. Dezember 1947 zur Rede und inspizierte mit ihm zusammen das Jugendheim. Wie er Bürgermeister Wilhelm Kaisen später mitteilte, deutete schon damals alles auf Haase als Täter hin. Den Mädchen und Jungen der Wandervogel-Gruppe sei er bereits vorher suspekt gewesen. Selbst Böhrnsen habe die "Schnoddrigkeit" Haases im Umgang mit den Mädchen beklagt und eine Entlassung im Wiederholungsfall angedroht. 

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Der Polizei warf Heinrich Stabenow schlampige Ermittlungsarbeit vor. Am 9. Dezember habe er Haase angezeigt und tags drauf seine Verhaftung gefordert, doch es sei nichts unternommen worden. Noch nicht einmal ein Verhör sei zustande gekommen. Offenbar reichten der Polizei die Indizien nicht aus. Erst eine goldene Armbanduhr führte die Ermittler auf die Fährte des Mörders. Drei Schüler hatten sie auf dem Messegelände gefunden, aber erst knapp eine Woche nach Lottes Verschwinden bei der Polizei abgegeben. Lottes Vater erkannte die Uhr seiner Tochter sofort wieder. Bei einer erneuten Suchaktion nahe der Fundstelle fand sich zunächst ein blutiger Wollstrumpf, dann der abgerissene Teil eines Hüftgürtels. Und schließlich die Leiche im nahen Bombentrichter.

Nun ging alles ganz schnell. Keine 24 Stunden später wurde Haase 11. Dezember 1947 unter dringendem Tatverdacht in Bad Harzburg verhaftet. In den Harz war er nicht etwa geflohen, vielmehr hatte die Stadt ihn dorthin geschickt – zu einem Lehrgang für Jugendwarte. Am Mittag des Folgetags war Haase wieder in Bremen. Lange verhören musste die Polizei ihn nicht, die Beweise waren erdrückend. "Er wurde an die Leiche und den Tatort geführt, wo er unter Tränen zusammenbrach und seine Tat eingestand", meldete der WESER-KURIER. Seine larmoyante Art geißelte die Zeitung auch beim Urteilsspruch. "Er bedauerte nur sich und zeigte keine echte Reue."

Ein Krieg ist niemals zu Ende, wenn die Waffen schweigen. In den Köpfen geht er weiter, mit den Folgen haben die Gesellschaften noch lange zu kämpfen. Besonders betroffen ist immer die Jugend, das Gewalterlebnis sitzt tief. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der moralische Kompass bei vielen Heranwachsenden zerrüttet, die Schreckensherrschaft des NS-Regimes hatte ihren Teil dazu beigetragen. Die "Hungerwinter" 1946/47 und 1947/48 taten ein Übriges. Die "geistige Verwahrlosung" der jungen Generation war in den frühen Nachkriegsjahren ein Dauerthema, hilflos stand man der Jugendprostitution gegenüber. Von einer "unsicheren und verwilderten Zeit" ist in den Papieren zum Mordfall Stabenow die Rede.

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Haase war kein gebürtiger Bremer, er stammte aus dem Rheinland. An die Weser war er erst nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft gekommen. Seine Jugend verlief offenbar alles andere als harmonisch, schon früh kam er wegen kleinerer Diebstähle mit dem Gesetz in Konflikt. Er landete in der staatlichen Fürsorge, mehrfach büxte er aus Heimen aus. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Haase noch zu Reichsarbeits- und Wehrdienst eingezogen. In Bremen schien er erstmals festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Die Gewerkschaftsjugend wählte ihn zum zweiten Vorsitzenden, im August 1947 stellte die Stadt ihn als Tischler im Jugendheim auf der Bürgerweide an. Von seinen Vorstrafen wusste man in Bremen nichts. Das zu überprüfen sei nicht Aufgabe des Amts für Jugendpflege gewesen, hieß es später.

Über Haases sexuelle Motivation konnte kein Zweifel bestehen. Im Prozess räumte der Angeklagte die Vergewaltigungsabsicht mehr oder weniger unumwunden ein: "Wie ich hinter ihr herging, packte mich der Trieb, dieses Mädchen zu besitzen." Für den "Notzuchtsversuch" erhielt Haase eine einjährige Haftstrafe, die im April 1949 durch die schon länger andauernde Untersuchungshaft als verbüßt galt. Blieb die Frage, wie die Bluttat bestraft werden sollte. Haase selbst stellte den Mord als eine Art Gnadenakt hin – er behauptete, er habe das röchelnde Mädchen von seinen Qualen befreien wollen. Das Schwurgericht war anderer Ansicht. "Grausam und gefühllos, aus unbarmherziger Gesinnung heraus, mit Überlegung und um das Notzuchtsverbrechen zu verdecken, hat Haase gehandelt."   

Doch warum noch ein Todesurteil so kurz vor Abschaffung der Todesstrafe durch das Grundgesetz? Bereits im Dezember 1948 hatte ein Abgeordneter aus den Reihen der Deutschen Partei (DP) im Parlamentarischen Rat den Verzicht auf die Todesstrafe gefordert. Die SPD setzte den entsprechenden Artikel 102 im Grundgesetz schließlich durch. Mit Inkrafttreten der provisorischen Verfassung am 24. Mai 1949 gehörte die Todesstrafe der Vergangenheit an. Hätte man nicht unter diesen Umständen auf das Todesurteil verzichten können, da doch ohnehin kaum noch Aussicht auf die Vollstreckung bestand? 

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Die Antwort: Solche Erwägungen spielten für Staatsanwaltschaft und Richter keine Rolle, sie hielten sich unbeirrt an geltendes Recht. Auch nach Kriegsende galt weiterhin das Reichsstrafgesetzbuch von 1871. Und das sah in Paragraf 211 vor, den überführten Mörder mit dem Tode zu bestrafen. Weil auf keinen besonderen Ausnahmefall erkannt wurde, der eine lebenslange Zuchthausstrafe ermöglicht hätte, folgten die Richter dem Antrag des Staatsanwalts auf Todesstrafe. "Die Strafjustiz schritt den ganzen Kreis des Strafgesetzbuchs aus", schreibt der Jurist Hans Wrobel über die Bremer Rechtsprechung in den frühen Nachkriegsjahren. Nur wenige Tage nach dem Urteil gegen Haase wurde ein zweites Todesurteil verkündet, das letzte in Bremen – diesmal gegen den zweifachen Kindermörder Bodo Fries.   

Der Mord an Lotte Stabenow hatte ein Nachspiel. Knapp zwei Wochen nach der Bluttat setzte der Senat eine fünfköpfige Untersuchungskommission ein. Das Gremium sollte klären, ob die Verwaltung des Jugendheims oder das Amt für Jugendpflege eine Mitschuld an dem Geschehen treffe. Das Ergebnis vom 4. Februar 1948 kam auch in der Bürgerschaft zur Sprache. Zwar stellte die Kommission einige Schwachpunkte fest, aber kein fahrlässiges Verschulden aufseiten der Heimleitung. Stabenow reagierte empört auf den Bericht, die Polizei bezichtigte er der Inkompetenz und die Kommission der Befangenheit. "Stets entstand starker Widerstand, wenn es sich um Feststellung von Mängeln bei der Verwaltung des Jugendheimes oder ihm nahestehender Organisationen handelte", ereiferte er sich gegenüber Bürgermeister Kaisen.  

Auch noch Jahre später ließ Stabenow nicht locker. Im Juli 1953 sah sich der damalige Bildungssenator Willy Dehnkamp genötigt, der Sache erneut nachzugehen. Einem Beamten der Bildungsbehörde kreidete Stabenow die Vernachlässigung seiner Dienstaufsicht an. Mit dem Abschlussbericht der Kommission konnte Dehnkamp ebenso wenig anfangen wie Stabenow. Der Bericht sage "leider gar nichts" darüber aus, ob Bedienstete vernommen worden seien. Letztlich ließ er die Angelegenheit dann aber doch auf sich beruhen, ein fehlerhaftes Verhalten der Behörde konnte er nicht erkennen. 

Ob der aufgewühlte Vater den Tod seiner Tochter jemals verwunden hat, darf bezweifelt werden. Heinrich Stabenow starb im April 1979. Über den weiteren Werdegang des Mörders gibt es keine sicheren Aufschlüsse. Nach der Haftentlassung soll er in den 1960er-Jahren ins Rheinland zurückgekehrt sein, seine Spur verliert sich in Düsseldorf.

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