Der Weg in Benjamin Drebers Jagdrevier führt an langen, düsteren Hallen vorbei, unter Gasleitungen hindurch und um eine Roheisenhalde herum. Hinter den Gleisen der Werksbahn geht es durch ein Wäldchen; im Unterholz verwittern Futtertröge aus der Zeit, als hier noch ein Bauerndorf stand. Das Hüttenwerk hat die Höfe und ihr Vieh vor 70 Jahren verdrängt – nicht jedoch Rehe, Hasen und Füchse. Weshalb Benjamin Dreber heute zwischen dem Werkszaun und Hochofen 3 sein Gewehr schultert und auf die Jagd geht.
Zwei Nutrias hat er schon erlegt an diesem Tag: Sie sind ihm in die Falle gegangen – "online überwacht", sagt er und lächelt. Meldet ihm das Handy einen Fang, fährt der Jäger hin und beendet die Sache. Mit einem Kopfschuss. Die Nager sind zur Plage geworden, seit sie sich auch hierzulande verbreiten. Mit ihren Bauten unterhöhlen sie Deiche und Entwässerungsgräben. "Dieser hier hat bestimmt sechs, sieben Kilo", schätzt Dreber und hebt den größeren der beiden Kadaver im Kofferraum seines Geländewagens an. 85 Exemplare der ursprünglich in Südamerika heimischen Biberratte hat er schon aus dem Verkehr gezogen, seit er das Revier im vergangenen Jahr übernommen hat.
Sein Revier – das ist das Werksgelände von Arcelor-Mittal Bremen. Sieben Quadratkilometer Industriefläche: Hochöfen, Stahlwerk, Walzstraßen, Gießhallen, Kesselhäuser, Schlackehalden – die Natur hat hier auf den ersten Blick nicht viel zu suchen. Dabei ist die Hälfte des Hüttenareals potenzielles Jagdgebiet: Wiesen und Wäldchen, Deiche, Tümpel, Gräben. Und so manches Dickicht – "da war seit 50 Jahren kein Mensch mehr drin", sagt Dreber. Schätzungsweise 130 Rehe leben auf dem Stahlwerksgelände, daneben Füchse, Hasen, Reiher. Und Marderhunde – noch so eine invasive Tierart, die sich über Bodenbrüter und Niederwild hermacht und deshalb bejagt wird.
Pachtvertrag neu ausgeschrieben
Dafür braucht die Hütte einen Jäger. Im vergangenen Jahr hat Arcelor-Mittal den Pachtvertrag neu ausgeschrieben. Gesucht wurde ein Jäger aus der eigenen Belegschaft – der Revierpächter sollte sich auskennen mit dem Gelände und seinen Anlagen. Dreber erfüllte die Bedingungen: Seit 1999 arbeitet er in der Energieversorgung des Stahlwerks; 2005 hat er seinen Jagdschein gemacht. Das Konzept, das er vorlegte, überzeugte: mit online überwachten Nutriafallen, Drohneneinsatz zum Schutz von Kitzen und einer ortsgenauen Erfassung aller Wildunfälle auf dem Gelände. Jetzt hat der 42-Jährige zwei Jobs auf der Hütte: Tagsüber verlegt er Rohre für die Energieversorgung; nach Feierabend geht er zweimal die Woche in seinem Revier auf die Pirsch.
Dreber biegt vom Mittelsbürener Deich in ein Wäldchen ab. An einer jungen Birke am Wegesrand ist die Rinde abgescheuert; der Jäger riecht an dem Holz. "Ein Fegeschaden", flüstert er. "Noch ganz frisch." Mit der Markierung stecken die Rehböcke ihr Revier ab. Im Schatten der Hochöfen hat die Brunftzeit begonnen, die Böcke "treiben" – verfolgen ihre Auserwählte hartnäckig und halten sich Konkurrenten vom Leib.
Auf einer Lichtung unter einem Windrad hat Dreber sich einen Hochsitz gezimmert – "Marke Eigenbau", bemerkt er ein wenig stolz. Als Dach dient eine alte Tischtennisplatte. Ein klappriger Bürostuhl sorgt für etwas Komfort; nur die Plastikrollen sind auf dem Holzboden noch zu laut, wenn er sich bewegt, findet er. Dreber späht durch die Plexiglasscheibe hinaus auf die Lichtung. "Idyllisch", meint er. "Hier kann ich alles um mich herum vergessen." Sogar das kleine Wespennest gleich neben seinem Kopf. Zuletzt beobachtete er hier regelmäßig eine Ricke mit ihren zwei Kitzen. Sein Arbeitsplatz – die Hütte mit ihren 2000 Grad heißen Öfen – liegt gleich hinterm Waldrand und könnte doch kaum weiter weg sein.
1,5 Millionen Euro für den Naturschutz
Dass der Industriekoloss kein Wildpark ist, lässt sich schwerlich bestreiten. "Aber es gibt neben der Stahlproduktion viele Bereiche auf unserem Gelände, die naturbelassen sind", meint Michael Hehemann, Personalchef der Hütte, der Drebers Pachtvertrag unterschrieben hat. Dort bemühe man sich, einen "artenreichen und gesunden Wildbestand zu gewährleisten". Mit dem Umweltschutzverband BUND gibt es inzwischen einen Kooperationsvertrag. Die Hütte hat sich verpflichtet, in den kommenden zehn Jahren insgesamt 1,5 Millionen Euro in den Naturschutz auf dem Werksgelände zu stecken.
Die Lichtung unter dem Hochsitz bleibt an diesem Abend verwaist. Dreber schultert seine doppelläufige Bockbüchsflinte und steigt die Leiter hinab. "Die Jagd ist kein Supermarkt", sagt er schulterzuckend. Zurück auf dem Deich, späht er noch einmal in Richtung Hochofenwerk. Von dort rollt wummernd eine Lok heran, die einen Pfannenwagen zum Stahlwerk zieht, randvoll gefüllt mit flüssigem Roheisen. Die Luft flirrt, es riecht nach Verbranntem. Der Jäger winkt dem Lokführer zu. Kaum ist der Zug durch, hoppelt ein Hase über die Gleise. "Das ist schon ein einzigartiges Revier", sinniert Dreber.
An diesem Abend bringt er immerhin zwei Nutrias mit von der Jagd nach Hause. Die Keulen kann man essen: "Kurzgebraten in der Pfanne, mit Bacon umwickelt", empfiehlt der Jäger. "Sehr lecker. Geht ein bisschen in Richtung Kaninchen."