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Studie Bremer leisten fast fünf Millionen Überstunden – viele davon unbezahlt

Beschäftigte in Bremen leisteten im vergangenen Jahr 4,77 Millionen Überstunden, wie aus einer Studie hervorgeht. Mehr als die Hälfte davon wurde nicht bezahlt. Diese Branchen sind besonders betroffen.
02.11.2023, 10:30 Uhr
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Bremer leisten fast fünf Millionen Überstunden – viele davon unbezahlt
Von Jan-Felix Jasch

Berufstätige in Bremen haben im vergangenen Jahr fast fünf Millionen Überstunden geleistet. Der sogenannte Überstunden-Monitor des Pestel-Institutes hat 4,77 Millionen Mehrstunden errechnet; 2,71 Millionen davon hätten die Menschen ohne Bezahlung geleistet, heißt es weiter. Damit haben die Beschäftigten den Unternehmen rein rechnerisch etwa 39 Millionen Euro geschenkt – wenn man den Mindestlohn von zwölf Euro zugrunde legt. Ein Überblick. 

Wie sind die Wissenschaftler des Pestel-Instituts vorgegangen?

Die Wissenschaftler des Pestel-Instituts aus Hannover haben bei ihrer Untersuchung aktuelle Mikrozensusdaten ausgewertet. Basis der Überstunden-Berechnung ist die Übertragung von Branchen-Durchschnittswerten auf die Beschäftigungsstruktur von Bremen. Matthias Günther, Institutsvorstand, stellt klar, dass es sich dabei um eine „Näherung an die Realität“ handelt. „Unsere Zahlen dürften eher an der unteren Kante der Realität liegen“, sagt er. Man arbeite bewusst nicht mit „überdrehten Zahlen“. Auch die Experten der Bremer Arbeitnehmerkammer halten die Zahlen für realistisch.

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In welchen Branchen fallen besonders viele Überstunden an?

Aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei aus dem Mai dieses Jahres geht nicht hervor, welche Branchen Treiber des Überstundenberges sind. Zu erkennen ist jedoch, dass die meisten Arbeitsstunden in Bremen im Gesundheits- und Sozialwesen geleistet werden, es folgen Verkehr und Logistik sowie Produktion. Das deckt sich mit den von der Arbeitnehmerkammer erhobenen Daten. 

Besonders hoch sind die wöchentlichen Überstunden mit 3,4 demnach in den Alten- und Pflegeheimen beziehungsweise in den gemeinsam erfassten Kitas und Vorschulen. Ebenfalls überdurchschnittlich stehen das Verarbeitende Gewerbe und die öffentliche Verwaltung da mit 1,7 Überstunden pro Woche, im Gastgewerbe sind es 2023 1,8 Überstunden. Angesichts des Fachkräftemangels hatte das Bremer Bildungsressort Lehrer um zusätzliche Arbeitsstunden gebeten. Anfang August war ein Schreiben an alle Lehrkräfte geschickt worden, in dem gefragt wurde, ob Interesse an einer Stundenerhöhung bestehe.

Auch bei der Bremer Polizei schiebt man zahlreiche Überstunden vor sich her. Doch trotz der gestiegenen Einsatzbelastung sind zuletzt Überstunden bei der Polizei Bremen abgebaut worden. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 wurden noch 104.200 Überstunden registriert, dieses Jahr waren es gut 74.200. Bei der Polizei Bremerhaven gab es im selben Zeitraum einen Anstieg von ungefähr 9400 Überstunden.

Wie sieht es in der Gastronomie aus?

Nach Berechnung des Pestel-Institutes haben die Beschäftigten in Hotels, Restaurants und Gaststätten gut 100.000 Überstunden geleistet. Das sei ein Gradmesser für den „massiven Fachkräftemangel“, sagt Dieter Nickel, Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Mit Blick auf die Überstunden warnt die NGG, die Auftraggeber der Studie ist: Hotellerie und Gastronomie könnten nicht dauerhaft auf die „Goodwill-Überstunden“ ihrer Beschäftigten bauen. „Es wird höchste Zeit, das Fachkräfte-Loch zu stopfen, das die Coronapandemie noch vergrößert hat.“ Das klappe allerdings nur, wenn Hotels und Restaurants bereit sind, attraktive Löhne zu bezahlen, sagt Nickel. 

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Wie empfinden die Beschäftigten die Problematik?

Mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer im Land Bremen ist unzufrieden mit der Arbeitszeit (wir berichteten). Das zeigt eine aktuelle repräsentative Umfrage der Bremer Arbeitnehmerkammer. Demnach würden 41 Prozent gern weniger arbeiten, zwölf Prozent dagegen gerne mehr. Unterschiede gibt es zwischen den Wünschen von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten: Während jede zweite Vollzeitkraft die Stunden lieber reduzieren würde, wünscht sich jede vierte Teilzeitkraft eine Aufstockung.

Unter denjenigen, die in Teilzeit arbeiten, gab mehr als ein Drittel an, dass sie dies aus gesundheitlichen Gründen tun, für 15 Prozent war dies der ausschlaggebende Faktor. Zwei Branchen stachen bei gesundheitlichen Gründen besonders hervor: die Pflege und das Gastgewerbe. Die körperlichen und emotionalen Belastungen sowie gehäufte Überstunden haben laut den Befragten einen negativen Einfluss auf die Gesundheit.

Wie sieht der Trend bei den Überstunden aus?

Der bundesweite Trend bei den Überstunden ist deutlich rückläufig, sagt Günther vom Pestel-Institut. Seien es 2010 noch gut 500 Millionen Überstunden gewesen, waren es 2022 noch etwa 330 Millionen. Auf einen besonders niedrigen Stand sank die Anzahl der Mehrstunden während der Coronapandemie: 2020 wurden circa 210 Millionen Überstunden registriert. Auch 2023 hält der sinkende Trend an. Gegenüber dem zweiten Quartal 2022 gingen die bezahlten und unbezahlten Überstunden zurück, wie aus der veröffentlichten Arbeitszeitrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervorgeht. Im Durchschnitt waren es 3,2 bezahlte und 4,7 unbezahlte Überstunden je beschäftigtem Arbeitnehmer im zweiten Quartal 2023.

„Überstunden werden seit Corona deutlich weniger geleistet“, sagt Enzo Weber, Leiter des IAB-Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“. Auch in Bremen ist der Trend rückläufig. Gemäß der aktuellen Beschäftigtenbefragung der Arbeitnehmerkammer haben die Arbeitnehmer im Land Bremen im Schnitt 1,1 Überstunden pro Woche gearbeitet: 2017 und 2019 waren es noch jeweils 2,8 Stunden pro Woche. Von einer Trendumkehr könne man angesichts der verschiedenen Krisenlagen jedoch noch nicht sprechen. 

Zur Sache

Das Pestel-Institut aus Hannover versteht sich als interdisziplinäres Forschungsinstitut, das sich auf die Analyse bestehender Systeme und deren Weiterentwicklung spezialisiert hat. Benannt ist die Einrichtung nach dem Gründer Eduard Pestel, der von 1977 bis 1981 niedersächsischer Minister für Wissenschaft und Kunst war. Pestel ist 1988 gestorben. 

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