Wenn es draußen vor dem Fenster scheppert, weiß Dieter Winge gleich, was Sache ist: Im Hafen wird wieder Schrott verladen. Der Westwind weht den Lärm bis zu den Reihenhäusern und Wohnblöcken von Oslebshausen. Und Westwind haben sie hier fast immer – "seit Oktober eigentlich durchgehend", beklagt Winge. Es könnte sogar noch mehr werden mit dem Geschepper, wenn die Hütte in den kommenden Jahren ihr neues Elektrostahlwerk baut, befürchten die Oslebshauser. Die Öfen brauchen jede Menge Schrott. Und nach den Plänen von Arcelor-Mittal soll dieser im Hüttenhafen umgeschlagen werden, in Windrichtung und damit gefühlt vor der Haustür von Winge und seinen Nachbarn.
In den Reihenhäusern an der Stubbener Straße wohnen Arbeiter, Akademiker, Migranten, Rentner – eine Mischung so bunt wie die gelben, blauen und roten Fassaden der Häuser. Winge ist vor acht Jahren hierher gezogen. Mittlerweile ist er Sprecher der Bürgerinitiative Oslebshausen, die sich den Kampf gegen den Lärm zum Ziel gesetzt hat. "Wir haben hier eine sehr vielfältige Belastung", fasst er die Situation zusammen: den Hafen, den Lkw-Verkehr, zwei Autobahnen, die Eisenbahn, Kraftwerke, Industriebetriebe. Der Gröpelinger Ortsteil Oslebshausen, der im 19. Jahrhundert vom Bauerndorf zur Hafenarbeitersiedlung heranwuchs, ist in der Wahrnehmung seiner Einwohner vom Krach umgeben.
Der Lärm – das ist für Winge einerseits das tägliche Brummen, Dröhnen und Scheppern aus dem nur wenige hundert Meter entfernten Hafen. "Das macht etwas mit den Menschen", sagt er. Es stört die Ruhe, den Schlaf, macht im schlimmsten Fall krank. Doch um die subjektiven Eindrücke bewertbar zu machen, muss der Lärm erst in Tabellen gefasst werden, in Dezibel, Richtwerte und Beurteilungspegel. Nur so lässt er sich bemessen und gesetzlich regulieren. In Deutschland geschieht das in der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm, kurz TA Lärm. Die Verwaltungsvorschrift legt Grenzwerte fest und regelt, was erlaubt ist und was nicht.
Die neue Hütte ist nicht lauter als die alte
Auch das 250-seitige Lärmgutachten zu dem geplanten Stahlwerk, das ein Kölner Ingenieurbüro erstellt hat, steckt voller Zahlen. Die Gutachter haben berechnet, welche Geräusche von den geplanten Anlagen auf dem Hüttengelände ausgehen, von den Zügen und Lkw, die das Material an- und abfahren – und was davon in den Wohngebieten ankommt. Das Ergebnis klingt zunächst einmal beruhigend: Die errechneten Geräuschpegel lägen deutlich unter den Richtwerten der Lärmschutzvorschriften, stellen die Gutachter fest: "Die Neuanlagen liefern damit keinen relevanten Schallimmissionsbeitrag im Sinne der TA Lärm." Will heißen: Die neue Hütte macht nicht mehr Lärm als die alte.
Der Lärmpegel in Oslebshausen ist allerdings durch die Vielzahl der Geräuschquellen schon jetzt an manchen Stellen höher, als es die Vorschriften erlauben. An der Wohnanlage Wohlers Eichen etwa, einem achtgeschossigen Gebäuderiegel aus den 1970er Jahren direkt an den Gleisen der Hafenbahn, werden nachts die erlaubten Grenzwerte schon heute überschritten.
Außerdem bleibt der größte Krachmacher in dem Gutachten außen vor: Der Schrottumschlag für die Hütte unterliegt einem eigenen Genehmigungsverfahren, denn für den Hafenumschlag gilt die TA Lärm nicht. Was die Gutachter berechnen, ist also nur der Geräuschpegel auf dem Gelände der Hütte – ohne den Schrottumschlag im Hafen. Dagegen wehrt sich der Stadtteilbeirat Gröpelingen, dem Winge als Fraktionssprecher der Linken angehört. Die Abgeordneten fordern einhellig, den Schrottumschlag für das neue Elektrostahlwerk zum Bestandteil des Genehmigungsverfahrens zu machen – und am besten zu verlegen.
Mehr Schrott für die Elektro-Öfen
Denn der Schrottverbrauch der Hütte, so viel ist sicher, wird steigen. 1,5 Millionen Tonnen Altmetall sollen die neuen Elektrolichtbogenöfen im Jahr einschmelzen, doppelt so viel wie die bestehenden Stahlkonverter. Umgeschlagen werden soll der Schrott am Weserport-Terminal 1, einige hundert Meter von den ersten Wohnhäusern in Oslebshausen entfernt. "Das werden wir hier hören", befürchtet Winge.
Gegen die Hütte, stellt er klar, hat keiner etwas im Stadtteil. "Jeder dritte Arbeitsplatz hier hängt daran", schätzt Winge. Aber den Schrott könnte man doch auch woanders umschlagen. Am Terminal 3 etwa, direkt an der Weser, wo heute noch das Erz für die Hochöfen angelandet wird. Oder in Brake oder Bremerhaven.
Bei Arcelor-Mittal sieht man allerdings keine Möglichkeit, den Schrott direkt an der Weser umzuschlagen. Man habe die logistischen Prozesse intensiv geprüft, versichert Unternehmenssprecherin Marion Müller-Achterberg. In der Übergangsphase werde der Terminal 3 weiter für den Erzumschlag benötigt, danach für die Eisenerzpellets, die in der neuen Direktreduktionsanlage verarbeitet werden. "Die Kapazitäten für die Versorgung des Werkes über Terminal 3 werden dauerhaft voll ausgelastet sein“, stellt Müller-Achterberg fest.
Häfenstaatsrat Kai Stührenberg (Linke) will es trotzdem versuchen. Der Lärm sei für die Bewohner eine Belastung, gerade auch nachts, räumt er ein. "Wir haben dafür noch keine Lösung, wollen aber jetzt in die Gespräche gehen und alles noch einmal im Detail prüfen", versichert der Staatsrat. "Die Situation ist nicht einfach."
Das zumindest sieht auch sein Parteigenosse Winge so. Mittlerweile gibt es sogar Pläne für eine Schiffsrecyclingwerft, in der der Schrott für die Hütte gewonnen werden könnte. Möglicher Standort: die Industriehäfen vor Oslebshausen. "Es kommt immer wieder was Neues", seufzt Winge. "Man kämpft hier gegen Windmühlen."