Wenn die Dunkelheit hereinbricht über den Urwald von Französisch-Guayana, schleicht das Maskilili durchs Tropendickicht. Mit seinen rückwärts gewandten Füßen führt es alle in die Irre, die ihm nachstellen und seinen Spuren folgen – eine Mahnung an die Kinder, nur ja bei ihren Eltern zu bleiben und nicht alleine in den Dschungel zu laufen. Was vermutlich der tiefere Sinn der Gruselgeschichte ist, die guayanische Großmütter seit Generationen ihren Enkeln erzählen.
Die Raketeningenieure des europäischen Weltraumbahnhofs in Kourou jedenfalls haben keine Angst davor, dass das Fabelwesen nachts um ihren Zaun schleicht. Wenn sie die Startzeit ihrer Rakete auf Dienstag, 15 Uhr Ortszeit, festlegen, einige Stunden vor Einbruch der Dunkelheit in den Tropen, hat das andere Gründe, rein sachliche: Physik und Technik – nicht mystische Wesen – bestimmen "H null", den Zeitpunkt, an dem die Triebwerke zünden für Flug VA262 . Es ist der erste Einsatz der neuen europäischen Trägerrakete Ariane 6: 840 Tonnen vereinte Schubkraft – das entspricht rund 26 Millionen PS – sollen die Rakete am Dienstagabend mitteleuropäischer Sommerzeit von Startrampe 4 im Urwald von Guayana ins Weltall wuchten. Dort angekommen, übernimmt ein Bauteil aus Bremen die Feinarbeit: die neu entwickelte Oberstufe mit mehrfach zündbarem Triebwerk.
Lange haben sie auf den nächsten Raketendonner gewartet im Centre Spatial Guyanais (CSG), wie die Hausherren ihren Raketenstartplatz an der Küste des französischen Übersee-Départements nennen. Als das letzte Exemplar des Vorgängermodells Ariane 5 im Juli vergangenen Jahres in den Abendhimmel über Kourou entschwunden war, kehrte eine beinahe schon beängstigende Ruhe ein im Urwald. Die europäischen Raketenbauer hatten ihr Pulver verschossen – das Nachfolgemodell Ariane 6 war noch nicht startklar. Mit vier Jahren Verspätung soll es nun so weit sein: Mit ihrer neuen Trägerrakete wollen die Europäer sich endlich wieder einen eigenen Zugang zum Weltall verschaffen.
"Alle wissen, was auf dem Spiel steht"
"Der Puls steigt, ganz klar", sagt Jens Franzeck, Produktionschef beim Raketenbauer Ariane. "Alle unsere Teams wissen, was auf dem Spiel steht – alle wollen zeigen, dass wir es können." Die Kritik an den Kostensteigerungen und Verzögerungen ist nicht spurlos an Management und Mitarbeitern vorbeigegangen – ein erfolgreicher Erstflug der Ariane 6 soll "der Anfang einer neuen Ära" sein, hofft Franzeck.
Besonders spannend wird es für das Bremer Team knapp acht Minuten nach dem Abheben der Rakete: Dann trennt sich die Oberstufe von der ausgebrannten Hauptstufe und übernimmt die Führung. In den folgenden zweieinhalb Stunden sollen das Vinci-Triebwerk und die hochkomplexe Hilfsantriebseinheit (APU) dreimal zünden, um die Nutzlast an verschiedenen Stellen abzusetzen. Beim Erstflug sind das einige Kleinstsatelliten, Kapseln und Versuchsaufbauten – nichts unbezahlbar Teures, denn es ist ja ein Testflug.
"Es wird eine lange Mission", kündigt Franzeck an, knapp drei Stunden, mit mehreren Flugmanövern im All – bei einem normalen Satellitenstart ist der Job der Rakete nach 45 Minuten erledigt. Aber die Ariane Group will gleich beim ersten Einsatz die Vielseitigkeit ihrer neuen Rakete unter Beweis stellen. Nach einer guten Stunde, wenn die ersten Kleinstsatelliten ausgesetzt sind, werde man ungefähr wissen, ob es läuft, stellt Franzeck in Aussicht. "Aber die Auswertung der Millionen von Daten, die wir beim Erstflug sammeln, das wird Wochen dauern."
Noch ein Ariane-Start in diesem Jahr
Der Produktionschef denkt schon einen Schritt weiter: Noch in diesem Jahr soll die zweite Ariane 6 fliegen; im kommenden Jahr sind sechs Starts geplant, 2026 acht und 2027 neun bis zehn. Das heißt: Noch vor dem Erstflug muss die Serienfertigung anlaufen, müssen Material bestellt und Komponenten gefertigt werden. "Das wird eine industrielle Meisterleistung", hofft Franzeck.
Während die Serienproduktion der Ariane-6-Oberstufe in Bremen fürs Erste also gesichert erscheint, sorgt sich Bremens Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt (Linke) um die langfristigen Perspektiven. Sie sieht die Raumfahrt als europäisches Gemeinschaftsprojekt in Gefahr – und damit auch die Entwicklung neuer Oberstufen in Bremen. Denn Deutschland drängt innerhalb der Europäischen Weltraumbehörde Esa auf mehr Wettbewerb beim Bau der nächsten Generation von Trägerraketen; die Italiener verfolgen mit ihrer Vega-Rakete eigene Pläne. Darauf wiederum reagieren die Franzosen, die bei Ariane den Ton angeben, deutlich verärgert: Sie sehen den geplanten Wettbewerb bei den Trägerraketen als Versuch, das europäische Ariane-Programm zu beenden, fürchtet man im Wirtschaftsressort. Für ihre geplante leichte Trägerrakete – Projektname Maia – will die Ariane Group die Oberstufe jedenfalls in Frankreich entwickeln und bauen; Bremen bliebe außen vor.
Deshalb reist Vogt mit zum Start der Ariane 6 nach Kourou – um bei den Franzosen Sympathiepunkte zu sammeln und Standortwerbung zu betreiben. "Raumfahrt ist ein Gemeinschaftsprojekt und nichts für nationale Alleingänge", mahnt sie. Vor allem bei schweren Trägerraketen wie der Ariane sei der europäische Markt zu klein für Konkurrenzprodukte. "Deutschland muss dazu beitragen, dass die Nachfolge der Ariane 6 weiterhin eine europäische Rakete der Esa bleibt", mahnt Vogt – mit einer Oberstufe made in Bremen.
Voraussetzung dafür ist allerdings ein erfolgreicher Erstflug der Ariane 6. Sollte die Rakete nach zehn Jahren Planung, Entwicklung und Bau kurz nach dem Start vom Himmel stürzen, stünde Europas Weltraumbranche vor einem Trümmerhaufen.