Wo sind die Geigen? Wo sind die Tränen der Rührung? In der Fabrikhalle 9 von Mercedes in Bremen zischt, klappert und knallt es. Romantik ist nicht zu spüren. Dabei schreiten hier am laufenden Band Verlobte auf dem Weg zur Trauung vorbei. Genau genommen sind es Antriebseinheiten für Fahrzeuge, deren Vereinigung mit der Karosserie in der Branche Hochzeit heißt. "Es ist ein sehr emotionaler Moment im Automobilbau – ein Highlight", sagt der Standortleiter des Werks Michael Frieß. Trotzdem ist es hier natürlich Alltag geworden, dass ab Schichtbeginn eigentlich ständig geheiratet wird.
Seit zwei Jahren ist der gebürtige Bayer Chef der Produktion im Norden. Zuvor übernahm Frieß beim Daimler in Bremen verschiedene Funktionen. Seit 25 Jahren lebt er in der Stadt. Ist er viel unterwegs? "Ich bin die ganze Zeit hier und sehr selten woanders. Das ist meine Rolle", sagt er beim Rundgang vor Ort.
Die Elektromobilität und die Ketchupflasche
Hier in der Halle 9 fahren quasi zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft am Standortleiter vorbei: Auf Antriebsstränge für Verbrenner folgen die für Elektro- und Hybridfahrzeuge im ständigen Wechsel – je nach Kundenwunsch. Alle Autos werden auf einer Linie und im selben Takt produziert. Das Werk fährt diese Strategie, um auf die wachsende Nachfrage nach Stromern passend reagieren zu können. "Auf diese Flexibilität sind wir stolz", sagt Frieß.
Für den Standort sei es "essenziell", heute alle Antriebsarten bauen zu können. "Unsere Philosophie war immer, dass wir die Transformation sicherstellen, um vorbereitet zu sein." Der Werkschef erinnert an das Bild mit dem Ketchup. Vor einigen Jahren verglich Ex-Mercedes-Vorstandschef Dieter Zetsche, es sei bei der Elektromobilität so wie mit der roten Soße aus der Flasche: Es kommt etwas, aber wann genau und wie viel?
In Bremen machte der EQC 2019 den Anfang. Als erstes Werk von Mercedes baute die Belegschaft hier ein reines Elektrofahrzeug. Darauf sind die Bremer bis heute stolz. In Zukunft soll die gesamte Flotte elektrifiziert sein. Das neueste Alternativmodell in Bremen ist der Luxuswagen EQE. Welche Bedeutung hat er für das Werk? "Für uns ist das ein ganz tolles Signal, dass wir mit unserer Arbeit überzeugen konnten", sagt Frieß. "In absehbarer Zeit werden die neu entwickelten Architekturen reine Elektrofahrzeuge sein."
Die Linie ein Stückchen hoch wird ein EQE gerade mit einer Batterie versorgt. In wenigen Sekunden übernimmt ein Roboter die Aufgabe. "Jetzt ist das sauber zentriert und kann abgesetzt werden", sagt der Werksleiter, als er den Greifer bei der Arbeit beobachtet. "Die Batterie sitzt!"
Die Fabrik ist zwar nur ein Gebäude von vielen auf dem Werksgelände in Sebaldsbrück. Frieß zufolge bräuchte es aber wohl allein zwei Tage, um wirklich zu verstehen, wie hier die Abläufe zusammengreifen. "Die Halle hat eine lange Tradition. Damals wurde hier der Baby-Benz gebaut – ein einziges Produkt", erinnert er. Heute produziert die Belegschaft der Halle 9 fünf Modelle: C-Klasse Limousine, GLC und GLC Coupé sowie EQC und EQE.
Die Autos werden, eine Bremer Besonderheit wegen des knappen Platzes, auf zwei Geschossen hergestellt. Lieferungen erfolgen über Außenrampen. Es ist viel los im Bauch der Fabrik. An den Bändern ziehen eigenständig Materialwagen vorbei, um die Werker mit den Zutaten speziell für jedes Autos zu versorgen. Über den Köpfen schweben in ein paar Metern Höhe ganze Fahrzeuge vorbei – eine beeindruckende Kulisse.
In der oberen Etage der Halle gibt es für den EQE einen Schlenker auf der Linie, aber gar nicht mal wegen des Antriebs: Es wird gesondert geprüft, ob die rahmenlosen Scheiben des Fahrzeugs gut sitzen.
Produktionsziel bleibt ein Geheimnis
Im vergangenen Jahr gab es in Bremen wegen des Chipmangels immer wieder Kurzarbeit. 217.000 Autos betrug am Ende das Produktionsvolumen. Unlängst bremste der Engpass bei den Halbleitern die Belegschaft erneut aus. Wie viele Fahrzeuge 2022 das Werk verlassen? Das Ziel bleibt geheim. "Wir sind sehr gut ausgelastet", sagt Frieß dazu.
Einer der Zulieferer von Kleinstvormontagen ist dabei der Bremer Martinshof. "Wir sind schon seit Jahren eng verbunden", sagt der Werksleiter. Mercedes ist laut Frieß der größte Partner des Betriebs. Und er leistet für die bis ins Detail abgestimmte Produktion der Fahrzeuge etwas Entscheidendes: "Der Martinshof und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind extrem zuverlässig."
Solarkraft auf die Dächer
Mercedes will die Produktion immer nachhaltiger aufstellen, weniger Ressourcen verbrauchen. In Bremen setzt man dabei wie an anderen Standorten auf Grünstrom und hier zusätzlich auf Fernwärme von der SWB. "Seit diesem Jahr produzieren alle eigenen Werke weltweit CO2-neutral", hebt Frieß hervor. Das sei ein Meilenstein gewesen. Das nächste große Projekt: "Auch auf unseren Dächern wird in den kommenden Monaten möglichst viel Fotovoltaik installiert, um Strom aus regenerativen Quellen zu beziehen.“
12.500 Beschäftigte hat der Standort – eine seit Jahren wie durch Magie konstante Zahl bei allen Herausforderungen in der Branche. Dabei müssen sich die Bremer bei der Qualität, bei der Produktionszuverlässigkeit und bei den Kosten im Konzern selbst immer wieder dem Wettbewerb stellen, um Modelle nach Bremen zu holen.
Hält der Zauber an? Wird die "Mannschaft", wie Mercedes gerne sagt, so groß bleiben? "Letztendlich hängt das bei uns immer vom Markt ab", sagt der Bremer aus Bayern. "Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir eine sehr gute Zukunft haben am Standort mit unseren Produkten.“ Dass der Umstieg in eine immer elektrischere Autowelt hier Arbeitsplätze kostet, davon geht Frieß nicht aus: "Für uns ist das keine große Veränderung. Wir bauen ja bereits jetzt schon elektrisch.“
Bei so viel Auswahl: Welches Auto fährt der Chef eigentlich selbst? "Ich bin ein Familienmensch. Außerdem bastele ich sehr gerne und brauche daher einen großen Kofferraum", sagt Frieß. Er fahre einen E-Klasse-Kombi mit Hybridantrieb. Seine Wege im Alltag bestreite er im Grunde komplett elektrisch. "Das funktioniert für mich sehr gut."
Ob Elektro oder Verbrenner – auf den Bremer Bändern existieren noch beide Welten nebeneinander. Wie schnell die Transformation gelingt? Wie schnell die Kunden umsteigen? Mercedes hat wie andere Autohersteller in die Elektrooffensive in den vergangenen Jahren deutlich intensiviert. Allerdings gibt es keinen genauen Scheidungstermin. So bleibt offen, wann es hier im Bremer Werk die letzte Hochzeit eines Verbrenners geben wird.