Herr Rehberg, lange Zeit wirkte der Landkreis Osterholz wie eine Insel der Glückseligkeit, wenn es um Gewalt auf dem Fußballplatz ging. Das Thema war kaum gegenwärtig. Das hat sich in letzter Zeit ziemlich dramatisch geändert, oder?
Wenn man die bloßen Zahlen anschaut, auf jeden Fall. Alleine in der aktuellen Spielzeit haben wir bereits drei Spielabbrüche gehabt. Und zwei Polizeieinsätze, bei denen das Spiel dann aber fortgesetzt wurde. Und das nach nur drei Monaten, da kann also noch einiges kommen.
Beinahe hätte es am vergangenen Wochenende den nächsten Fall gegeben, als es in der Kreisklasse-Partie zwischen Heilshorn und dem ASV Ihlpohl II zu körperlichen Auseinandersetzungen und einem damit ausgelösten Polizeieinsatz kam. Haben Sie eine Erklärung, warum sich die Gewalt auf den Fußballplätzen gerade so entlädt?
Da muss man in der Gesamtbetrachtung vielleicht etwas weiter ausholen. Momentan gibt es in der gesamten Gesellschaft ja an allen Ecken und Enden Probleme. Das Leben ist einfach nicht mehr so wie früher, wie vor Corona. Überall tauchen negative Themen auf, Themen wie gesundheitliche oder finanzielle Sorgen, Sorgen um den Job, letztlich auch Sorgen um den Frieden. Es gibt gefühlt sehr viel mehr Bedrohungen als noch vor Corona. Und dann kommen da am Wochenende einige auf den Fußballplatz, bei denen sich dann vermutlich das Ventil einmal öffnen muss.
Warum passiert das nur im Fußball und nicht in anderen Sportarten?
Weil Fußball nun einmal die Sportart ist, für die sich gefühlt alle interessieren. Volleyball, Tennis oder Basketball sind nun mal Randsportarten, aber beim Fußball hast du lauter Experten und selbst ernannte Fachleute. Da meinen sehr viele, dass sie besonders gute Spieler sind oder waren. Und leider denken eben auch viele, sie wüssten es immer besser als der Schiedsrichter.
Können Sie sich an eine solche Häufung von Spielabbrüchen und "Gewaltthemen" im Landkreis Osterholz erinnern?
Man muss ja klar festhalten, dass das kein regionales Phänomen des Landkreises Osterholz ist, sondern ein bundesweites. Ich war sehr erstaunt, dass zu meiner Mail, die ich vor einigen Tagen an alle Vereinsvorsitzenden verschickt habe, praktisch parallel der Niedersächsische Fußballverband einen ganz ähnlichen Text verschickt hat. Auch dort ging es darum, dass ganz deutlich daran appelliert wurde, dass es so nicht weitergehen kann.
In Niedersachsen ist die Zahl der aktiven Schiedsrichter zuletzt stark rückläufig gewesen. Ist diese Tendenz auch in Osterholz zu spüren?
Ja, auf jeden Fall spüren wir das auch. Alleine in dieser Saison haben nach den jüngsten Vorfällen drei Schiedsrichter aufgehört, jeweils mit der Begründung, dass die Respektlosigkeit gegenüber den Schiedsrichtern immer mehr überhandnimmt. Und das waren sogar allesamt sehr gute Schiedsrichter, die schon länger und viel gepfiffen haben.
Das ist in der Tat überaus besorgniserregend.
Wobei man immer auch hinzufügen muss: Die überwiegende Mehrheit der Spieler ist immer noch sportkameradschaftlich fair, wie es so schön heißt. Aber das Wesen des Fußballs ist mit Blick auf den Schiedsrichter nun einmal so, dass der eine spielt und der andere richtet. Anders funktioniert es nicht. Und das können offenbar immer weniger Menschen akzeptieren, dass da jemand ist, der eine Entscheidung für sie trifft und letztlich in dem Moment über sie bestimmt.
Wieso ist das im Fußball einfach nicht in den Griff zu bekommen? Es geht dabei ja nicht darum, Emotionen zu unterdrücken, oder sich über Entscheidungen kontrovers und auch mal intensiver zu unterhalten. Aber wo im Handball, Eishockey oder Football eine Entscheidung dann akzeptiert wird, wird im Fußball immer weiter diskutiert.
Und das eben auch auf größter Bühne von den eigentlichen Vorbildern. Neulich gab es da wieder ein sinnbildliches Beispiel bei einem Bundesliga-Spiel. Da gab es eine Szene, wo ein Spieler an der Eckfahne gegen einen Gegenspieler nachstochert. In einer völlig belanglosen Feldposition stochert er also, und stochert und stochert. Irgendwann pfeift der Schiedsrichter völlig zwangsläufig Freistoß. Für alle war klar, dass das gar nicht anders sein konnte, so lange wie er da nachgestochert hat. Aber was macht der Spieler? Dreht sich um, rennt mit weit aufgerissenen Augen auf den Schiedsrichter zu, lamentiert, ruft, gestikuliert und kriegt am Ende völlig zurecht Gelb. Und das wegen einer absoluten Kleinigkeit, die regeltechnisch einwandfrei entschieden worden ist. Genau das ist das, was dann auf den Amateurplätzen nachgemacht wird.
Was empfiehlt man angesichts dieser Entwicklung einem jungen Schiedsrichter, der mit solchen Themen wie Beleidigungen und Ähnlichem konfrontiert wird?
Da gibt es keine Vorgehensweise, die die einzig richtige Marschroute ist. Grundsätzlich ist es immer wichtig, dass man sich, unabhängig von dem, was vorgefallen ist, einer konkreten Gefährdungssituation entzieht. Wenn Trainer oder Spieler auf einen zugelaufen kommen, dann muss man ganz klar signalisieren, dass das eine Grenze ist. Deshalb ist ein Spiel auch umgehend abzubrechen, sobald ein Schiedsrichter körperlich angegangen wird. Niemand sollte da den Helden spielen und sich in eine körperliche Auseinandersetzung schmeißen. Lieber fünf Schritte beiseite gehen und genau beobachten, damit hinterher ein vernünftiger Bericht angefertigt werden kann.
Dieser Bericht ist wichtig, oder?
Sehr wichtig, denn nur so können die Täter am Ende auch belangt werden. Deshalb sollte man sich umgehend nach Spielende Notizen zum Hergang machen. Es gibt nichts Ärgerlicheres, als wenn am Ende jemand ohne Strafe davonkommt, nur weil ein Bericht nicht korrekt verfasst wurde.
Wie kann der Kreisverband seine Schiedsrichter schützen?
Wir können ja leider nicht überall sein, Spielbeobachtungen gehen mangels Masse ja gar nicht mehr. Wir können letztlich nur im Vorfeld agieren, zu besonderen Spielen natürlich besondere Schiedsrichter ansetzen. Wir helfen natürlich auch im Nachgang bei der Ausformulierung der Berichte, wenn das nötig sein sollte. Ansonsten bleibt uns nur, an die Vereine zu appellieren. Die Spieler selbst erreichen wir
ja nicht. Am Ende geht es immer um gegenseitigen Respekt. Der Schiri ist da, weil er da hingehört und weil es ohne ihn nicht geht. Und weil er eine ganz spezielle Aufgabe hat.
Welche ist das?
Er ist dafür da, das Regelwerk anzuwenden und umzusetzen. Und das ist eine komplett andere Aufgabe als die der Spieler. Und diese Aufgabe kann er immer nur aus seiner Sicht machen. Und natürlich gibt es dann 22 andere auf dem Platz, die oftmals eine ganz andere Sichtweise haben.
Oft wird ja im Zusammenhang mit Schiedsrichtern die Formulierung benutzt: Warum tut man sich das eigentlich an?
Und es macht ja auch definitiv etwas mit einem, wenn man so angegangen wird. Ich kenne das noch aus meiner aktiven Zeit, wenn du emotional angegangen wirst, wenn ein Spieler schreit, dann beschäftigt dich das auch in der nächsten Szene noch. Da bist du dann mit den Gedanken ein Stück weit woanders. Das ist völlig menschlich. Und schon fehlt dir die nötige Aufmerksamkeit für die nächste Situation. So erfahrene Schiedsrichter wie Gerd Krohn, die hatten damit keine Probleme, weil sie eine solche Autorität auf dem Platz hatten, dass da keiner gewagt hat, die persönlich anzugehen.
Aber das sieht bei jungen Schiedsrichtern natürlich ganz anders aus …
Völlig richtig. Wir hatten gerade erste vor ein paar Wochen einen Fall, wo ein gerade mal 15-jähriger Schiedsrichter ein C-Jugend-Spiel gepfiffen hat. Der hat eine Szene gepfiffen und dann im Nachdenken über diese Szene festgestellt, dass er falsch entschieden hat und die Entscheidung korrigiert. Was ist dann passiert? Beide Trainer kamen auf den Platz gelaufen, haben massiv auf den jungen Mann eingewirkt, nach dem Spiel ging das Ganze noch weiter. Der Jungschiedsrichter hat einen zweiseitigen Bericht geschrieben, wer den liest, merkt auf bedrückende Art und Weise, wie sehr das diesen Jungen beschäftigt und was er in den Tagen danach durchgemacht hat. Der hat sich tagelang Gedanken gemacht.
Haben Sie noch ein weiteres Beispiel für das, was im Fußball schief läuft?
Nehmen wir das Thema Abseits, das muss man sich immer wieder auf der Zunge zergehen lassen. Wie oft steht ein Schiedsrichter in der gegnerischen Hälfte und entscheidet auf Abseits und der Torwart von der anderen Seite des Feldes oder der Trainer von der gegenüberliegenden Seite fängt an zu schreien: "Ey, das war doch nie im Leben Abseits!" Die stehen 30 Meter weiter weg als der Schiedsrichter und nehmen sich trotzdem das Recht heraus, besser und richtiger entscheiden zu können. Natürlich wird es immer so sein, dass es wirklich jemand besser sieht als der Schiedsrichter, das ist völlig logisch. Und natürlich wird es auch Fehlentscheidungen geben, über die sich Spieler ärgern. Völlig klar und komplett in Ordnung. Aber man muss sich doch entsprechend benehmen.
Folgender Vorschlag: Der DFB führt eine neue Regel ein. Temporär für, sagen wir mal, ein halbes Jahr, sind die Schiedsrichter in allen Ligen dazu verpflichtet, die Spieler bei jedem Fehlpass, bei jedem falschen Einwurf, bei praktisch jedem Fehler lautstark anzuschreien und auf den vermeintlichen Fehler radikal hinzuweisen. Quasi als Lehrprobe für die Spieler, frei nach dem Motto: Guckt mal, wie sich das anfühlt.
(lacht) Das wäre in der Tat mal ein ganz neuer und vielleicht gar nicht mal so uninteressanter Ansatz. Denn natürlich ist es so, dass die Spieler sich herausnehmen, den Schiedsrichter auf jeden vermeintlich gemachten Fehler hinzuweisen. Andersherum wäre das mal sehr interessant. Aber machen wir uns nichts vor: Bei den meisten Spielen würde es vermutlich komplett eskalieren, weil viele Spieler damit überhaupt nicht klarkommen würden.
Wie geht es weiter auf den Fußballplätzen? Haben Sie die Hoffnung, dass sich wirklich etwas zum Besseren ändern wird?
Es gibt da wie, wie bereits erwähnt, kein Patentrezept. Man kann nur immer wieder appellieren. Den Hut haben am Ende die Vereine und natürlich auch die Trainer auf. Dort muss auf die Spieler eingewirkt werden. Wenn ich persönlich einen Wunsch äußern dürfte: Jeder, der am Fußball beteiligt ist, egal ob Trainer, Spieler, Betreuer, Eltern oder Zuschauer – bevor man irgendetwas reinschreien will, bitte erst einmal tief durchatmen und daran denken, dass kein Schiedsrichter mit Absicht Fehlentscheidungen vornehmen will. Es gibt da ja dieses Schild, das an ganz vielen Sportplätzen aufgehängt ist.
"Wer den Schiedsrichter beschimpft oder beleidigt muss mit der Verweisung vom Sportplatz rechnen?"
Ganz genau, wenn das mal ein paar Wochen konsequent umgesetzt werden würde, wäre es vermutlich sehr, sehr leer auf vielen Plätzen. Und ein Punkt ist mir ebenfalls noch ganz, ganz wichtig.
Und zwar?
Das alle im Kopf behalten, dass wir hier auf Kreisebene sind. Das betrifft die Trainer, die Spieler und natürlich auch die Schiedsrichter. Genauso wie Fehler bei Trainern und Spielern gemacht werden, kommen sie natürlich auch bei den Schiedsrichtern vor. Das sollte man niemals vergessen.
Das Gespräch führte Tobias Dohr