Osterholz-Scharmbeck. Es klingt paradox: Um die Inklusion verhaltensauffälliger Kinder zu ermöglichen, sehen sich manche Schulen dazu genötigt, die Inklusion vorübergehend zu unterlaufen – mit einem besonderen Angebot für besondere Schüler. Das Lernhaus im Campus geht nun schon im zweiten Jahr diesen Weg. In der Lerngruppe "Atlantis", die im benachbarten Turnhallen-Anbau untergebracht ist, werden fünf Fünftklässler mit Förderbedarf im Bereich der sozialen und emotionalen Entwicklung von zwei Lernhaus-Mitarbeitern begleitet. Dort können sie zunächst mal das Lernen lernen.
Der Gruppenname, betont Beate Krafft-Schöning, deute nicht auf Untergang hin – ganz im Gegenteil: Es gehe um "Wert-Schätzung" und um den Versuch, versunkene Ressourcen zu heben. Das funktioniere in kleineren Gruppen und in einer reizarmen Umgebung bei einigen Kindern einfach besser. "Nicht überall ist Bullerbü", sagt die pädagogische Mitarbeiterin, die sich die Gruppenleitung mit dem Sozialpädagogen Andree Schumacher teilt. In der Schullandschaft herrsche nicht überall heile Welt, in den Elternhäusern mancher Kinder erst recht nicht. "Die Teilhabe-Chancen sind ungleich verteilt", sagt Krafft-Schöning. Das entlade sich in Schulvermeidung, Schlägereien, Straftaten. Um Unterricht für alle überhaupt zu ermöglichen, mussten sie am Campus aus der Not eine Tugend machen.
Die Kurve gekriegt
Sagar Al Majon hat mit der Inselgruppe die Kurve gekriegt. Als die Klassenlehrerin ihm und seinen Eltern voriges Schuljahr nahegelegt habe, einen Wechsel zu Atlantis zu versuchen, habe er das "am Anfang nicht so toll" gefunden, erzählt der Siebtklässler mit einiger Untertreibung. Sein festes Ziel sei es damals gewesen, sich wegen fortwährender Störungen rauswerfen zu lassen, um nicht mitmachen zu müssen. Das hatte in der bisherigen Schulzeit meist funktioniert. Die Noten waren entsprechend miserabel. Er habe nun mal gerne provoziert, sei aggressiv aufgetreten. "Aber bei Atlantis haben sie mich nicht rausgeschickt", stellt Al Majon im Rückblick fest und es klingt noch immer ein wenig verwundert.
Aus jener Zeit stammen Leitsätze, die bis heute an der Wand im Gruppenraum hängen. "Ich möchte ehrlich sein", steht da; und "Ich übernehme Verantwortung – für mich, für andere – und trage die Konsequenzen". Sagar Al Majon findet, die Zeit in der Atlantis-Gruppe habe ruhiger werden lassen. "Irgendwann habe ich gemerkt, wie cool das hier ist; wir haben immer alles zusammen gemacht." In Geschichte habe er neulich seine erste Eins geschrieben. Beate Krafft-Schöning lächelt, als sie ihren ehemaligen Schützling reden hört.
Eine faire Chance
Später, als der Jugendliche sich verabschiedet hat, erklärt die Lernhaus-Mitarbeiterin, ein Schlüssel liege oft in der Selbstwahrnehmung der Schüler. "Wenn ihnen klar wird, dass sie bei uns eine faire Chance bekommen, ist schon viel gewonnen." Sagar Al Majon habe damals mit einem Gandhi-Referat eine offenkundig maßgeschneiderte Aufgabe bekommen – und glänzend gelöst. "Dabei war es das totale Anti-Programm zu seiner Lebenswirklichkeit." Es brauche eben einen langen Atem. Ein überschaubares Setting mit klaren Strukturen und nicht mehr als vier Schulstunden pro Tag.
"Bei einigen kann man das Licht am Ende des Tunnels nicht sehen", räumt Krafft-Schöning ein. Sie führt viele Elterngespräche, teils unter Beteiligung des Jugendamts. Schumacher ergänzt, als Pädagoge dürfe man keinen Augenblick lang unaufmerksam sein; in Sekundenbruchteilen sei zu entscheiden, ob und wie man reagiert. Im ersten Atlantis-Jahr durchliefen insgesamt elf Fünft- und Sechstklässler die Atlantis-Gruppe, überwiegend männlich und stets nur zu fünft oder sechst. Diesmal ist die Gruppe kleiner und konstanter, besteht ausschließlich aus Jungen. Im Gegensatz zum vorigen Schuljahr kommt die Mehrzahl von ihnen nicht aus Zuwandererfamilien.
Kontakt zur Regelgruppe
Während die Fachlehrer in Englisch, Deutsch und Mathe für einzelne Schulstunden in den Atlantis-Raum wechseln, können sich Krafft-Schöning und Schumacher in der wöchentlichen Quasselstunde auch dem widmen, was die Jungs so umtreibt: Gerade geht es um streikende Busfahrer, Klima-Aktivisten und das Energiesparen. Und um die Frage, ob Robin Hood ein Straßenräuber war oder "einer von den Guten". Mit dem Darknet und dem Schulschwänzen will sich die Gruppe außerdem befassen. In der sogenannten Warmen Dusche geben sich die Schüler täglich ein Feedback, wenn es etwas zu loben gibt. Es gibt individuelle Zielvereinbarungen und an der Tafel steht noch die wöchentliche To-do-Liste, was alle fürs Lernjournal nachzuholen haben: Mathe: Kopfrechnen; Deutsch: Wortarten; Englisch: Vokabeln.
Mit der umjubelten Aussicht auf einen exklusiven Cuxhaven-Ausflug im Sommer entlassen Schumacher und Krafft-Schöning die Gruppe ins Wochenende. Beide sind ständig im Austausch mit Klassenlehrer Sebastian Weber und der Förderschulpädagogin Jessica Lindemann. Weber ist jeden Schultag auch in der Inselgruppe, Lindemann an zwei von fünf Tagen. Beide haben, wie viele Lernhaus-Lehrer, eine umfangreiche Zusatzqualifikation absolviert, das sogenannte ETEP-Programm für Entwicklungstherapie und Entwicklungspädagogik. Die Vernetzung von Regel- und Inselgruppe ist den Pädagogen sehr wichtig.
In den Pausen und beim gemeinsamen Sportunterricht halten die Schüler Kontakt; die Rückkehr soll schrittweise und in Doppelstunden erfolgen. Atlantis, darauf achten sie im Lernhaus, bedeutet einen Aufenthalt auf Zeit. Es soll keine Einbahnstraße sein und kein Stigma, sondern im Gegenteil die Botschaft an die Schüler, dass hier jemand an sie glaubt.