Beobachter sprechen bereits vom „schwersten“, vom „schockierendsten“, vom „ungeheuerlichsten“ Korruptionsskandal, der das politische Brüssel seit Jahren erschüttert hat. Dem EU-Parlament droht ein ungeheurer Image-Schaden, dementsprechend groß ist die Empörung. Im Zentrum der Affäre steht Eva Kaili, die mittlerweile suspendierte Vizeparlamentspräsidentin des Europäischen Parlaments, die am Freitag mit vier weiteren Personen festgenommen worden war. Am Sonnabend folgte eine weitere Festnahme.
Der Verdacht wiegt schwer. Es geht laut Polizei um „bandenmäßige Korruption und Geldwäsche“. Während zwei Personen zwischenzeitlich wieder freigelassen wurden, erließ die belgische Staatsanwaltschaft am Sonntag dann Haftbefehl gegen vier Verdächtige – darunter nach Medienberichten auch die 44-jährige Griechin Kaili. „Sie werden der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, der Geldwäsche und der Korruption beschuldigt“, hieß es. Belgischen Medien zufolge wiesen mehrere Quellen darauf hin, dass Katar mit beträchtlichen Geldsummen und Geschenken versucht haben soll, Entscheidungen des EU-Parlaments zu beeinflussen.
Die Details klingen wie aus einem Film. Kailis Vater soll mit „einem Koffer“ mit einer großen Menge Bargeld gerade zu fliehen versucht haben, als die Beamten am Freitag in der privaten Wohnung der Politikerin eintrafen. Bei der Durchsuchung seien dann weitere „Säcke voller Geldscheine“ entdeckt worden. Insgesamt wurden bei den Razzien 600.000 Euro in bar sowie Telefone und Computer sichergestellt, neben Kaili vier Italiener verhaftet, darunter ein ehemaliger EU-Abgeordneter und Kailis Lebensgefährte Francesco Giorgi. Er ist parlamentarischer Mitarbeiter der sozialdemokratischen Fraktion im Parlament.
Im November erst war Kaili nach Katar gereist, wo sie die „Reformen“ in dem Golfstaat begrüßt hatte. Offenbar saß die 44-Jährige auch beim Eröffnungsspiel der Fußball-Weltmeisterschaft am 20. November im Stadion. Doha sei „ein Vorreiter in Sachen Arbeitsrechte“, hatte sie anschließend im EU-Parlament gelobt – und damit heftige Reaktionen von Kollegen geerntet. Die ehemalige Nachrichten-Moderatorin saß für die griechische Pasok-Partei im Parlament, die zusammen mit der SPD zur sozialdemokratischen Fraktion gehört. Mittlerweile wurde Kailis Mitgliedschaft suspendiert.
Die aktuellen Vorwürfe der Bestechung und Bestechlichkeit wie auch der Verdacht der Geldwäsche sandten Schockwellen durch das Parlament, das sonst stolz auf seine Rolle als einzige Institution der EU ist, die direkt vom europäischen Volk gewählt wird. Die Präsidentin des Abgeordnetenhauses, Roberta Metsola, entzog Kaili „mit sofortiger Wirkung alle Befugnisse, Pflichten und Aufgaben“ als ihre Stellvertreterin. Bislang war sie eine von 14 Vizepräsidentinnen und -präsidenten des EU-Parlaments. Man könne sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu laufenden Ermittlungen äußern, sondern nur bestätigten, dass das Parlament „uneingeschränkt“ mit den zuständigen Strafverfolgungs- und Justizbehörden zusammenarbeite, sagte Metsola. „Wir werden alles tun, was wir können, um den Lauf der Gerechtigkeit zu unterstützen."
Katarina Barley, SPD-Abgeordnete und ebenfalls Vizepräsidentin des EU-Parlaments, zeigte sich „wütend“ über die Nachrichten und forderte „volle Transparenz und Aufklärung“. Korruption sei „ein schweres Vergehen an der Demokratie“, so die ehemalige Bundesjustizministerin. „Fassungslos“ sei er, sagte der CDU-Europaparlamentarier Dennis Radtke, „dass sich offenbar führende Mitglieder des Europäischen Parlaments gegen hohe Geldsummen haben kaufen lassen, um politisch für Staaten zu werben, die Menschen- und Arbeitsschutzrechte mit Füßen treten.“ Er fürchtet um das Ansehen des Parlaments „durch die Geldgier einzelner Abgeordneter“. Radtke fordert eine Überprüfung, „ob das Lobbyregister und die Transparenzregeln ausreichen, um eine Beeinflussung von Abgeordneten durch Drittstaaten oder Interessengruppen auszuschließen“. Eigentlich gebe es in Brüssel relativ gute Lobbying-Regeln, meinte der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund. „Doch Drittländer sind davon bisher völlig ausgenommen.“ Hier müsse die Europäische Union „sofort nachbessern“.
Die Empörung zog sich durch alle Parteien und Fraktionen. „Allein der Verdacht der Korruption und Bestechlichkeit beschädigt Reputation und Glaubwürdigkeit des EU-Parlaments“, sagte Terry Reintke, Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion. Auch mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn müsse „völlig klar sein“, dass das Abgeordnetenhaus seine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setze.
Eigentlich waren für diese Woche Verhandlungen zwischen Parlament und den 27 Mitgliedsstaaten über den Kommissionsvorschlag geplant, Katar zur Liste jener Länder hinzuzufügen, deren Bürger für Reisen unter 90 Tagen kein Visum für die Einreise in die EU brauchen. Doch der Widerstand wächst. „Es darf zum jetzigen Zeitpunkt keine Verhandlungen über Visa-Erleichterungen für Katar geben“, sagte Daniel Caspary, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament. Erst müsse der Sachverhalt gründlich aufgeklärt werden, „dann kann man über weitere Schritte entscheiden“, so der CDU-Politiker.