Vier Jahre lang hat ein Kind in Bremen-Nord die Schule geschwänzt, bis dieses einem Mitarbeiter der Verwaltung auffiel. „Vor dem Hintergrund des sozialen Strukturwandels müssen sich Schulen zunehmend mit der Problematik von Schulvermeidung befassen.“ Das sagt Stephan Wegner, Leiter der Oberschule In den Sandwehen in Blumenthal. Gerade in strukturschwachen Gebieten wie dem Bremer Norden, Westen und Osten seien die Zahlen von Schulschwänzern steigend. Auch die Leiterin des Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentrums Rebuz-Nord, Claudia Ludwigshausen, warnt: „Die elternbedingte Schulabstinenz wächst.“
Die „Bußgeldstelle“ für Schulschwänzer ist geraume Zeit lang nicht besetzt gewesen. Zwischen dem Zeitpunkt, zu dem das Schulschwänzen erstmals gemeldet wurde, und einer Reaktion der Verwaltung lagen mehr als zwölf Monate. In einem Extremfall aus dem Bremer Norden soll ein zehnjähriges Kind aufgefallen sein, das noch nie in der Schule war. Die Familie habe abwechselnd in Deutschland und in einem anderen Land gelebt, heißt es.
Inzwischen hat das Bildungsressort die Stelle wieder besetzt. Sie sei auch nicht ganz verwaist gewesen, sagt Sprecherin Annette Kemp. Mitarbeiter hätten Bescheide nebenbei erledigt, sodass für das Schuljahr 2017/18 in 124 Fällen Bremer Eltern zur Zahlung eines Bußgeldes herangezogen worden seien.
Eltern stützen Schulschwänzen
Nicht erfasst sind die Fälle, in denen Schüler unentschuldigt einzelne Tage oder Stunden fehlen. Diese Kinder versuchen Schule und Rebuz, durch Gespräche selbst wieder zu integrieren. Kemp sagt, das Bildungsressort stehe über das Rebuz im regelmäßigen Austausch mit dem Sozialressort, um über die Weiterentwicklung im Umgang mit Schulvermeidung zu beraten.
Einen besonderen Bedarf sieht Claudia Ludwigshausen vom Rebuz Nord auch nördlich der Lesum. Die derzeitigen Konzepte reichten nicht, meint Claudia Ludwigshausen. Dass die Fehlzeiten in dem Fall des zehnjährigen Kindes nicht erkannt worden seien, habe nichts mit der unbesetzten Stelle im Bildungsressort zu tun gehabt. Es fehle schlicht auch an einem „Informationstransfer“ zwischen den einzelnen Ressorts.
„Die Gefahr, dass Schüler im System verloren gehen, droht besonders in den schulischen Übergängen zum Beispiel von Klasse vier bis Klasse fünf“, berichtet die Leiterin der Unterstützungsstelle. Betroffen seien häufig auch Schüler, die vor ihrem Abschluss stehen. Mit Sorge beobachten die Rebuz-Mitarbeiter inzwischen zudem einen Anstieg der Schulschwänzer unter Geflüchteten. „Die Vorkurse bieten noch eine gute Anbindung, aber sie gehen oft im berufsbildenden System unter.“
Schule zu schwänzen habe unterschiedliche Gründe. Zumeist ist es ein Symptom für Versagensängste, deutet aber auch auf Probleme im Elternhaus hin. Nach den Worten von Claudia Ludwigshausen sind es mitunter auch religiöse Gründe, warum Kinder nicht am Schwimmunterricht, an Klassenfahrten oder am religionsübergreifenden Ethikunterricht teilnehmen.

Claudia Ludwigshausen vom Rebuz und Schulleiter Stephan Wegner wünschen sich ein neues Konzept für den Umgang mit Schulschwänzern.
Sie habe eine lange Unterredung mit einem islamischen Vater geführt, berichtet Ludwigshausen, der zum Teil Gründe aus dem Glauben angeführt habe, warum er seinem Kind verbieten wollte, zum Ethikunterricht zu gehen. Auch Schulleiter Stephan Wegner kennt solche Diskussionen: „Solche Gespräche sind für die Schulen sehr belastend, weil zeitintensiv.“ Dass Eltern tolerieren, dass ihr Kind der Schule fernbleibt, oder dies sogar aktiv betreiben, sei ein neues Phänomen, sagt Claudia Ludwigshausen. „Das Phänomen macht uns große Sorgen, denn es zeigt, dass es nicht ausreicht, nur mit den Schülern zu arbeiten. Auch das Elternhaus muss in den Fokus genommen werden.“
Claudia Ludwigshausen berichtet von einem weiteren Fall aus Bremen-Nord, bei dem ein Kind eineinhalb Jahre nicht in der Schule war. Die Mutter habe der Schule in der Zeit als Gesprächspartner zur Verfügung gestanden, von fehlenden ärztlichen Diagnosen und psychosomatischen Beschwerden berichtet und „am Ende kam heraus, dass das Kind bewusst von der Schule ferngehalten wurde“.
Eltern, die ihr Kind nicht in die Schule schickten, versuchten manchmal zudem, instabile Zustände im Elternhaus zu verdecken. Claudia Ludwigshausen beobachtet in vielen Fällen eine Scham, sich dem Jugendamt zu öffnen.
Elterncafés, wie es zum Beispiel in Kooperation zwischen dem Rebuz und dem Jugendhilfeträger Brigg in der Villa des Förderzentrums am Wasser in Grohn eingerichtet worden ist, seien niedrigschwellige Angebote, die es weiter auszubauen gilt. „Zurzeit wird das Elterncafé aus Projektmitteln finanziert. Aber die Arbeit muss dringend verstetigt werden“, empfiehlt Claudia Ludwigshausen.
Aktuell treffen sich sieben Elternpaare im Café in Grohn, die ihren Kindern einen Weg zurück in die Schule aufzeigen wollten. „Das Elterncafé ist vielfach eine Brücke zu den Hilfen zur Erziehung“, sagt Claudia Ludwigshausen. Doch oft sei die Zusammenarbeit zwischen Bildung und Soziales zugunsten der Familien nicht gegeben.
„Jeder zieht sich auf seinen Bereich zurück, aber natürlich sind beide Ressorts für Kinder zuständig“, hat Stephan Wegener festgestellt. „Um die Zahl der Schulmeider zu reduzieren, muss die Zusammenarbeit intensiviert werden. Das kann kein Ressort allein schaffen.“
Bessere Zusammenarbeit gefordert
Schule und Rebuz wünschen sich, dass die Ressorts Bildung und Soziales effektiver als bisher zusammenarbeiten. „Uns Schulen sind die Hände gebunden, wenn die Maßnahmen nicht umgesetzt werden. Es muss eine Rahmenvereinbarung für eine verbindliche Zusammenarbeit zwischen Bildung und Soziales und eine gemeinsame Verantwortung geben“, fordert Wegner. „Sehen die Ressorts weiter nur die eigenen Zuständigkeiten, wird man weitere Kinder verlieren.“
Die Schule sieht dauerhaftes Fehlen in der Schule grundsätzlich als Kindeswohlgefährdung. Schulleiter Wegner: „Denn wenn die Kinder nicht zur Schule kommen, gefährden sie ihre Schulabschlüsse und die Teilhabe am weiteren gesellschaftlichen Leben. Und wir sehen: Schulmeidung und Delinquenz gehen oft einher.“ Ob das Schwänzen als Kindeswohlgefährdung gewertet wird oder nicht, hinge von den Umständen des Einzelfalles ab, so Sozialressortsprecher Bernd Schneider.
„Bei Schulmeidern wird erst einmal die Schulbehörde mit einem abgestuften Instrumentarium tätig; die Schule geht zunächst auf die Erziehungsberechtigten zu, sie leitet in hartnäckigen Fällen ein Ordnungsverfahren ein, das bis zur polizeilichen Vorführung des Betreffenden in der Schule führen kann“, sagt Schneider. Das Ressort sieht seine Aufgabe derzeit vor allem darin, sozialpädagogische Schulvermeiderprojekte wie das in Grohn zu finanzieren.
„Dass jetzt wieder Bußgelder verlangt werden, zeigt Wirkung“, hat Schulleiter Stephan Wegner beobachtet. „Das spricht sich rum unter den Härtefällen.“ Bis zu 1000 Euro Bußgeld werden nach Ermessen der Behörde fällig, wenn jemand länger nicht zum Unterricht erscheint. In vielen Fällen sei eine Geldstrafe die einzige Sanktion, die die Eltern noch erreiche, hat Stephan Wegner festgestellt. Doch er wünscht sich noch etwas anderes: Um Schüler ab 14 Jahre zu motivieren, in die Schule zu kommen, müsste es möglich sein, ihnen für die Fehlstunden Sozialstunden aufzubrummen. Andere Städte wie Hamburg seien hier bereits weiter.