Auf der Geschäftsstelle des SV Werder ist ein brisanter Brief eingegangen. Absender ist der Deutsche Fußball-Bund (DFB). Der Inhalt ist eine böse Überraschung: Der Fußballverband will den Bremern die Lizenz für die neue Bundesligasaison verweigern. So ist es passiert, an einem Junitag des Jahres 1977. Es hätte ein Tiefpunkt der Vereinsgeschichte werden können, wurde aber die Geburtsstunde eines erfolgreicheren SV Werder. Denn nur wenig später tat sich eine Menge – dank eines Mannes, der noch gar nicht bei Werder arbeitete: Willi Lemke.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bremer Traditionsvereins wirft, Zusammenhänge erklärt und Entwicklungen einordnet.
Es ist eine der fesselnden Geschichten, die man in der Biografie „Herr Lemke, übernehmen Sie!“ findet. Nicht ohne Grund sagte Lemke über sich, er sei ein Netzwerker gewesen, lange bevor es den Begriff gab. In der Stadt der kurzen Wege traf er als Landesgeschäftsführer der SPD oft Franz Böhmert, Werders Präsidenten. Der clevere Lemke bot Böhmert einen Deal an: „Ich würde gerne bei Werder Mitglied werden, aber dafür trittst Du in die SPD ein.“ Böhmert stimmte zu.
Die Belastungsprobe für die neue Männerfreundschaft folgte schnell. Als der böse Brief des DFB vorlag, rief Böhmert morgens um 9 Uhr bei Familie Lemke an. Ob der Willi vielleicht helfen könnte?
Um 9 Uhr rief Böhmert an
Werder hatte damals 2,5 Millionen Mark Schulden – bei einem Jahresetat von nur drei Millionen. Der DFB sah deshalb eine „stark eingeschränkte Wettbewerbsfähigkeit“. TV-Gelder spielten noch keine Rolle, auch hohe Ablösesummen gab es nicht. Wer Geld machen wollte, musste das Stadion modernisieren und die Zuschauerzahl erhöhen.
Schon oft hatte Werder mit der Stadt darüber gesprochen, aber passiert war nichts. Jetzt musste es schnell gehen: Um 9 Uhr kam der Anruf von Böhmert, um 12.30 Uhr hatte Lemke schon die Vertreter aller Parteien zusammengetrommelt. Er überzeugte die Politiker von einem teilweisen Neubau des Stadions und besorgte ein zinsloses Darlehen, damit der Verein ausstehende Zahlungen ans Finanzamt leisten konnte. Damit war die Lizenz gerettet. Schon ein Jahr später verfügte das Weserstadion über zusätzliche 9500 Sitzplätze auf der neuen Nordtribüne, was jährliche Mehreinnahmen von rund 300.000 Mark bescherte. An den Ecken leuchten seither die vier Flutlichtmasten.
Lemke hatte eindrucksvoll gezeigt, was er kann. Wenige Jahre später wechselte Manager Rudi Assauer zu Schalke. Die Bremer brauchten einen neuen Macher, laut „Vize“ Fischer suchten sie aber wieder einen Mann mit Fußballerfahrung. Lemke hatte zwar das Stadion neu auf die Beine gestellt und Werder gerettet, er besaß aber nur die Trainer-B-Lizenz und war nie Profifußballer gewesen.
Was machte er also? Das: Auf 15 Seiten verfasste er ein Zukunftskonzept. Die ersten Sätze waren so ehrlich wie mutig, also typisch Lemke: „Werder Bremen haftet nach wie vor ein provinzieller Charme an. Wir sind eine der grauen Mäuse der Bundesliga. Es ist Zeit, Ideen zu produzieren, um mit neuen Kontakten und Impulsen (auch im wirtschaftlichen Bereich) dem SV Werder zu einem neuen IMAGE zu verhelfen! Den sportlichen Leistungen müssen Leistungen im Management folgen.“ Der Clou dabei: Er warb für eine Aufgabenteilung zwischen sportlichem und wirtschaftlichem Bereich. Dadurch öffnete er sich die Tür in den Profifußball: Denn Wirtschaft, das konnte er ja. Es war nun kein Nachteil mehr, kein Fußballexperte zu sein.
Er ahnte, was passieren würde
Lemke überzeugte auch den Wirtschaftsrat des Vereins. Der Titel seines Vortrags: Von der grauen Maus zum Europäischen Spitzenklub. Als hätte er geahnt, was in den nächsten 14 Jahren passieren würde. Die Unternehmer waren begeistert. Einer aus der Runde trug einen heimlich abgesprochenen Text vor: „Herr Lemke, könnten Sie sich denn vorstellen, bei der SPD aufzuhören und sich für uns zur Verfügung zu stellen?“ Das wollte er hören. Und ja, das konnte er sich vorstellen.
In seiner lesenswerten Biografie gibt es viele solcher Anekdoten, die einen Blick hinter die Kulissen erlauben. Ein Pokalspiel wie nun gegen Darmstadt in „seinem“ Weserstadion, das hätte Lemke gefallen. Auch wegen Florian Kohfeldt. Sie waren Nachbarn in Schwachhausen.