Otto-Braun-Straße, Bremer Vahr – zwischen den immer gleich aussehenden Wohnblöcken ein Kunstrasenplatz. Zwei Tore, eine Mittellinie, Banden drum herum. Dort treffen sich die Jugendlichen aus der Gegend zum Quatschen, Kicken und Träumen von der großen Karriere. Das Weserstadion ist Luftlinie nicht einmal drei Kilometer entfernt und für viele von ihnen ein Sehnsuchtsort. So ist es auch bei den Brüdern Clinton, Richard und Fred MC Mensah Quarshie. 2014 kamen die gebürtigen Ghanaer nach Bremen – mit dem Traum, einmal für Werder zu spielen. Fünf Jahre später haben es zwei von ihnen immerhin schon ganz nah ans Weserstadion herangeschafft. Der 21-jährige Richard läuft für Werders U 21 in der Bremen-Liga auf, der 19-jährige Fred ist gerade von der U 19 in die U 23 gewechselt und kam sogar schon in zwei Testspielen der Profis zum Einsatz. Der Älteste des Trios, Clinton, ist 22 Jahre alt und für den Bremen-Liga-Meister Bremer SV aktiv. Drei Brüder, drei überdurchschnittlich gute Fußballer, drei Laufbahnen, die ganz eng miteinander verwoben sind und keineswegs geradlinig verliefen.
Ein wenig erinnern Clinton, Richard und Fred MC Mensah Quarshie an die Boateng-Brüder Kevin, Jerome und George – und das liegt nicht nur daran, dass sie alle ghanaische Wurzeln haben. „Ein paar Ähnlichkeiten gibt es. Wenn es von uns auch zwei Brüder in die Bundesliga schaffen, wäre das natürlich ein Traum“, sagt Richard MC Mensah Quarshie. Was für die Boatengs der Betonplatz im Berliner Wedding – die sogenannte Panke – war, das ist für die Quarshie-Brüder der Kunstrasenplatz in der Bremer Vahr. Ganz in der Nähe wohnen sie mit ihren Eltern, ihrer kleinen Schwester und einem älteren Bruder, der lieber Musik macht, als Fußball zu spielen. Für Clinton, Richard und Fred aber dreht sich alles um Fußball. Wenn sie nicht im Verein trainieren, spielen sie Fifa an der Playstation, schauen alle möglichen Spiele im Fernsehen oder gehen raus auf den Bolzplatz. Dort lernt man, sich zu behaupten – mit dem Ball und ohne den Ball.
Wenn es voll ist auf dem Kunstrasen, spielen die Mensah-Brüder mit den anderen Jungs aus der Nachbarschaft. „Wir mischen die Mannschaften bunt durch“, erzählt Fred. Manchmal sind sie auch nur zu dritt dort. Dann messen sich die Brüder im „Lattenschießen“ und testen ihre Schusspräzision. Auf die Frage, wer dabei meistens gewinnt, antworten alle drei sofort: „Ich.“ Man kennt das, die Rivalität unter Brüdern kann ein großer Ansporn sein. Jerome Boateng übte etwa als Kind monatelang für sich alleine, um mit dem linken Fuß genauso gut schießen zu können wie sein älterer Halbbruder Kevin Prince-Boateng. Auch die Mensah-Brüder machen sich gegenseitig besser. Clinton, der Älteste des Trios, ist eine Art Trainer für seine jüngeren Brüder. „Ich gebe Tipps, motiviere sie und korrigiere sie, wenn sie Fehler machen“, sagt der 22-Jährige. Er lacht, während Richard und Fred zustimmend nicken. Die drei Brüder verstehen sich gut. Streit untereinander gebe es selten, versichern sie. „Und dann ist es nur ein kleiner Streit“, sagt Richard. Wenn sie Zeit haben, schauen sie bei den Spielen der anderen zu und unterstützen sich. Dass die Brüder derart eng zusammenhalten, kommt nicht von ungefähr. Ihr bisheriges Leben war geprägt von drastischen Veränderungen, die die Brüder zusammengeschweißt haben.
MC - eine Abkürzung im Formular
Fred war vier, Richard sechs und Clinton acht Jahre alt, als sie ihre Heimat Ghana verließen und nach Spanien auswanderten. „Unsere Eltern wollten uns ein besseres Leben bieten“, sagt Clinton. Seine beiden jüngeren Brüder können sich nicht mehr so richtig daran erinnern, wie es damals war, als die Familie in dem fremden Land ankam. Seit der Registrierung in Spanien heißen sie „MC Mensah Quarshie“. Da ihr Nachname sehr lang war, kürzte ein Beamter im Formular „Michael“ mit „MC“ ab. Clinton sagt: „Alles war anders, alles war neu. Wir konnten die Sprache nicht.“ Der junge Mann mit den Rastalocken lacht, doch ihm ist anzumerken, dass es eine harte Zeit gewesen sein muss. Als für die Mensah-Brüder in Spanien alles fremd war, suchten sie Halt in der einen Sache, die ihnen bekannt vorkam: im Fußball. Schon in Ghana hatten sie auf der Straße gekickt, in Spanien meldeten sich Clinton, Richard und Fred schnell in einem Verein an. Clinton nimmt einen Kugelschreiber und schreibt den Namen auf ein Blatt Papier: Santutxu FC. Ein Klub aus Bilbao, die erste Herrenmannschaft spielt in der vierten Liga.
„Der Fußball hat uns sehr geholfen“, sagt Fred. „Fußball ist wie eine Sprache.“ Die Brüder fanden durch den Sport Freunde und lernten schnell Spanisch. Wenn sich Clinton, Richard und Fred unterhalten, reden sie noch heute Spanisch miteinander, auch wenn sie mittlerweile alle gut Deutsch sprechen. Von Santutxu wechselte das Trio in die Jugend von Athletic Bilbao, dem bekanntesten Klub im Baskenland. Die drei Brüder hegen daher immer noch große Sympathien für Athletic, doch ihr Lieblingsverein ist inzwischen Werder, natürlich. Nach Bremen gekommen sind die Mensahs eher zufällig. Ihr Vater fand in der Hansestadt einen Job in der Gastronomie und verließ Spanien. Ein Jahr später holte er seine Frau und die Kinder nach. 2014 war das.
22 Tore in einer Saison
Wieder ein neues Land. Wieder eine neue Sprache. Wieder half der Fußball. Clinton, Richard und Fred MC Mensah Quarshie meldeten sich beim FC Union 60 an. „Wir haben uns in Bremen schnell wohlgefühlt. Die Stadt ist unsere zweite Heimat geworden“, erzählt Fred. Der Stürmer schoss für den FC Union sofort ein Tor nach dem anderen und bekam die Chance, in die Werder-Jugend zu wechseln. Dort machte er genauso weiter. Besonders in der abgelaufenen Saison traf der trickreiche Angreifer mit dem starken Abschluss in der U 19-Bundesliga fast nach Belieben: 22 Treffer in 26 Spielen. „Ich bin ein mitspielender Stürmer, aber will natürlich auch viele Tore machen“, sagt Fred MC Mensah Quarshie, dessen Vorbild der Spanier David Villa ist. Zur Belohnung für seine guten Leistungen durfte er bei zwei Testspielen zum Saisonabschluss für die Profis auflaufen – und traf auch dort. Sowohl beim 4:1 gegen Blau-Weiß Papenburg als auch beim 7:1 gegen den VfL Oldenburg gelang ihm ein Tor. „Es war ein unbeschreibliches Gefühl, bei den Profis dabei sein zu dürfen“, schwärmt Fred. „Alle waren total freundlich zu mir.“
In der neuen Saison steht der Stürmer im Kader von Werders U 23. „Ich will mich weiterentwickeln und mich schnell an den Herrenbereich gewöhnen“, sagt er. Fred und seine zwei Brüder sitzen auf den grünen Plastikschalen der Tribüne am Platz 11. Hier spielt der Stürmer, der schon für das ghanaische U 20-Nationalteam zum Einsatz kam, künftig mit der U 23. Als er spricht, deutet Fred einmal in die Richtung, wo das Weserstadion mit den vier Flutlichtmasten thront. „Es ist mein Traum, irgendwann dort zu spielen“, sagt er. Clinton und Richard haben diesen Traum auch, doch fragt man, wer von den drei Brüdern es am ehesten in die Bundesliga schafft, antworten die beiden Älteren sofort: „Fred.“ Dabei sind Clinton und Richard ebenfalls talentiert. Richard spielte in der U 16-Auswahl des Baskenlandes und in der Bremer U 18-Landesauswahl, doch Fred hat nun eben den Sprung in Werders U 23 geschafft. Neid gebe es unter den Brüdern deswegen nicht, versichern sie. Die anderen beiden unterstützen Fred bei seinem Traum. Irgendwie ist es schließlich auch ihr Traum. Der Name MC Mensah Quarshie, den sie so oft erklären müssen, in der Bundesliga – das wäre schon was, da sind sich die drei Brüder einig. Und eine Sache ist für Clinton und Richard ohnehin klar: Selbst wenn Fred bei Werder den Durchbruch schaffen sollte, würden sie ihn im „Lattenschießen“ immer noch besiegen – auf dem Bolzplatz in der Bremer Vahr, so wie immer.