Wenn Werder den Österreicher Marco Friedl erst vor dieser Saison verpflichtet hätte, würden viele von einem Toptransfer schwärmen. Weil der 25-Jährige aber schon einige Saisons in Bremen spielt, trägt er in der öffentlichen Wahrnehmung noch einen Rucksack mit sich herum, in den er eine Menge Ballast aus seinen ersten Jahren gestopft hat. Es waren harte Zeiten: Erst wirkte er als Jungprofi auf der defensiven Außenbahn nicht handlungssicher genug, dann wurde er im Abstiegskampf aufgerieben. Nach dem Aufstieg schließlich spielte er als jüngster Kapitän der Liga eine Saison zum Vergessen und stellte danach selbst klar, dass er andere Ansprüche an sich hat. Es schien so, als würde der Druck der Kapitänsbinde in einem direkten Zusammenhang stehen mit seiner viel zu hohen Fehlerquote in der Abwehr und im Spielaufbau.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bremer Traditionsvereins wirft, Zusammenhänge erklärt und Entwicklungen einordnet.
Im Vergleich dazu ist Friedls Wandlung in dieser Saison erstaunlich. Nur eine Sommerpause später stand er mit breiterer Brust in der Abwehrkette. Und während um ihn herum die Spieler ausfielen, wurde Friedl die wichtige Konstante in der Defensive. Zuletzt beim Sieg in Köln war er wieder wesentlich für den 1:0-Erfolg mitverantwortlich. Als Abwehrchef durfte er sich über den dritten Auswärtssieg hintereinander ohne Gegentor freuen, und wie er sich in so manchen Torschuss warf oder den Ball von der Torlinie kratzte, riss die Zuschauer daheim von den Sofas. Seinen Namen haben sie schon oft lauthals geschrien, inzwischen aber machen sie das nur noch aus Begeisterung.
Denn Friedl bereitet den Zuschauern immer mehr Freude. 48 Schüsse hat er in dieser Saison geblockt, auf diesem Gebiet gehört er zu den besten Bundesligaprofis. Auch seine Balleroberungen fallen auf: 340 sind es nun schon, davon 100 im Abwehrdrittel des Spielfeldes. Und nebenbei hat sich seine Passquote erheblich verbessert: In dieser Saison rangiert Friedl unter den Top-30 der Bundesligaspieler mit der höchsten Passsicherheit, im Bremer Kader kommt nur sein Nebenmann Anthony Jung auf einen leicht besseren Wert.
Wenn Friedl nun dem drei Jahre jüngeren Julian Malatini auf dem Feld die Abläufe erklärt, wirkt es, als würde ein Routinier einem Jungspund helfen. Friedl hat sich selbst vom Küken zum Kapitän entwickelt: Als er im Januar 2018 als 19-Jähriger auf Leihbasis vom FC Bayern kam, standen noch Theo Gebre Selassie, Milos Veljkovic, Niklas Moisander und Ludwig Augustinsson in der Abwehr. Weiter vorne trugen Max Kruse, Zlatko Junuzovic und Thomas Delaney das Werder-Trikot – und standen auf dem 16. Tabellenplatz. Florian Kohfeldt hatte als Trainer in höchster Not von Alexander Nouri übernommen. Am Saisonende wurde Schalke Zweiter hinter Bayern und der HSV stieg ab, so lange ist das schon her. Werder kaufte Friedl für 3,5 Millionen Euro.
Seine Wandlung vom wackligen Abwehrspieler zur sicheren Säule kam gerade noch früh genug, um seinen Ruf zu stärken – im Bremer Kader, wo ein Kapitän durch Leistung vorangehen muss, und auch im Hinblick auf die Europameisterschaft. Jetzt, wo bei Österreich David Alaba an einem Kreuzbandriss laboriert, könnte Friedl mit starken Leistungen wieder ins Blickfeld von Nationaltrainer Ralf Rangnick rücken. Gleichzeitig kam seine Leistungsexplosion aber auch etwas spät, denn ursprünglich hoffte man im Verein, einen Spieler mit seinem Potenzial für einen zweistelligen Millionenbetrag nach England verkaufen zu können. Doch selbst in der Alles-muss-raus-Phase nach dem Abstieg griff kein Verein zu.
Vielleicht wurde er ein Jahr zu früh Kapitän, das Ergebnis der internen Wahl zeugte auch von einem Konflikt Alt gegen Jung im Kader. Inzwischen haben die Jüngeren diesen Wettstreit in allen Mannschaftsteilen gewonnen, vom Tor bis zum Sturm. Dass Friedl mit Druck eigentlich gut umgehen kann, bewies er in einem der schwierigsten Momente der Vereinsgeschichte: In der Relegation in Heidenheim (2:2) im Juli 2020 spielte er durch. Insgesamt hat er nun schon in 162 Spielen für Werder verteidigt. Würde ihn jetzt ein stärkerer Klub kaufen, würden das viele Fans bedauern.
Übrigens, wo gerade von Europa geträumt wird: Friedl ist einer der wenigen Werderprofis mit Champions-League-Erfahrung. Jupp Heynckes ließ ihn im November 2017 beim 2:1-Sieg in Anderlecht ran, in der Startelf und das komplette Spiel hindurch. Mit ihm auf dem Feld standen Stars wie Robert Lewandowski, Arjen Robben, Thiago, Jerome Boateng und Arturo Vidal. Das war der Lohn für viele gute Jahre in der Bayern-Jugend, nachdem Friedl als Zehnjähriger von Kufstein nach München gewechselt war. Eine Ausbildung, von der – mit etwas Verzögerung – nun Werder profitiert.