Anfang Mai 2019 fing es an, erzählt die 40-Jährige. Als sie spätabends von einer Veranstaltung nach Hause kam, lagen vor ihrer Wohnungstür in dem Mehrparteienhaus ungebetene Geschenke. Schokolade zum Beispiel, versehen mit einem Post-it-Zettel: „Probier doch mal“. Zunächst habe sie gedacht, dass sich da jemand geirrt hat. „Das kann nicht an mich adressiert sein. Ich kann damit nicht gemeint sein.“
Doch es ging weiter so. Wochenlang. Immer wieder lagen kleine Geschenke vor ihrer Tür. Erst versehen mit Liebeserklärungen, später auch mit unverschämten Anzüglichkeiten. „Da ist ja wohl einer total durchgeknallt“, habe sie sich erst noch geärgert. Doch irgendwie sei gerade dieser Gedanke dann auch sehr beängstigend gewesen.
Nach dem dritten Mal wandte sie sich ratsuchend an eine Bekannte. „Mach' es öffentlich, bleib' nicht allein damit, erzähle es deinen Freunden und auch deinen Kollegen“, habe die ihr geraten. Und vor allem: „Geh' damit zur Polizei.“ Das habe sie dann auch sofort getan und sich einer Stalking-Expertin der Behörde anvertraut. „Die hat dann mit mir meinen gesamten Freundes- und Bekanntenkreis abgeklopft“, erzählt die Frau. Ein fürchterliches Gefühl, erinnert sie sich. „Man rotiert. Wer könnte es gewesen sein? Man stellt alles und jeden infrage.“ Gemeinsam mit der Polizistin sei sie letztlich aber zu der Überzeugung gelangt, dass es keinerlei Anlässe gegeben hatte, die auf einen Täter im privaten Umfeld schließen ließen.
Mietrechtlich nicht relevant
Die 40-Jährige ging nicht nur zur Polizei. Sie schaltete eine Opferschutzanwältin ein („Hat meine Rechtsschutzversicherung gedeckt“) und meldete sich bei der Wohnungsbaugesellschaft, bei der sie die Wohnung gemietet hat. „Den Hausmeister habe ich sogar als allererstes angesprochen. Aber der hat gesagt, dass er da nichts machen kann.“ Sie habe sich daraufhin schriftlich an die Gesellschaft gewandt, den Fall geschildert, gesagt, dass sie sich bedroht fühle, und dass sie gerne eine Kamera in dem Hausflur installieren würde. Vier Wochen lang habe sie keine Antwort bekommen. Dann meldete sich eine Mitarbeiterin der Gesellschaft: Eine Kamera auf dem Flur sei verboten. Außerdem sei die Wohnungsbaugesellschaft nicht zuständig. Bei „mietrechtlich relevanten Themen“ werde man aktiv. Wenn es zum Beispiel um die Verkehrssicherungspflicht gehe, etwa bei losen Gehwegplatten. Nicht jedoch bei der persönlichen Sicherheit der Mieter. Und die geschilderten Vorkommnisse bewegten sich auf der privatrechtlichen Ebene.
Die Polizei dagegen sei aktiv geworden, habe mehrfach ihre Nachbarn befragt. Letztlich aber ohne Erfolg. „Die Kommissarin hatte am Ende sogar ein schlechtes Gewissen, dass sie nichts herausgefunden haben.“ Zum Glück hörte der Spuk Mitte Juni auf, erzählt die 40-Jährige. Was an den Befragungen der Polizei gelegen haben könnte, vielleicht aber auch an der Unterstützung eines Kollegen. Der hatte ihr im Internet eine Mini-Kamera besorgt – „im Laden bekommt man so etwas nicht“ – und unauffällig außen an ihrer Wohnungstür installiert. „Vielleicht hat der Täter die Kamera entdeckt.“ Im Grunde sei ihr das aber egal gewesen. „Hauptsache, das hat aufgehört.“
Heute, ein Dreivierteljahr später, sei sie drüber weg, erzählt sie. Aber vergessen ist nichts. „Man fühlt sich völlig eingeschränkt. Wochenlang geht einem nur das durch den Kopf. Egal, ob man abends später von der Arbeit kommt, von einer Veranstaltung oder aus der Kneipe – immer ist da dieses ungute Gefühl: Was ist, wenn du nach Hause kommst?“
Es könne jeder gewesen sein, habe ihr die Polizistin damals gesagt. Vermutlich ein Mann, vielleicht aber auch eine Frau. Die Handschrift auf den kleinen Zetteln habe eher wie die einer Frau ausgesehen. „Und da ist natürlich auch immer die Furcht, dass es nicht bei den Geschenken und Zetteln bleibt. Was, wenn dir da einer mit einem Messer auflauert...?“ Nach außen habe sie versucht, diese Angst nicht zu zeigen. Auch das ein Rat, den sie bekommen habe: „Ich habe deshalb meinen Nachbarn gegenüber immer davon gesprochen, dass ich wahnsinnig wütend bin.“
Gefreut habe sie sich über den Zuspruch ihrer Freunde und Kollegen und die Hilfe der Polizei. Maßlos geärgert dagegen über die Wohnungsbaugesellschaft, von der sie sich im Stich gelassen fühlt. Und verwundert sei sie über die Gesetzeslage. Dass es selbst in so einem Fall verboten sei, eine Kamera zu installieren, könne sie nicht nachvollziehen. Ebensowenig, dass man ihr deswegen kein Pfefferspray verkaufen durfte („Habe ich trotzdem bekommen: Ich sollte nur sagen, das sei zum Schutz gegen scharfe Hunde“).
Wirklich drüber weg? Die 40-Jährige überlegt, lässt sich ein bisschen Zeit mit der Antwort. „Ich versuche, das auszublenden. Und das gelingt mir auch.“ Aber natürlich habe das alles Spuren hinterlassen. Sie schaue jetzt immer sehr genau, ob ihr jemand folge. Vor allem, wenn sie spät abends unterwegs ist. „Mein Grundvertrauen ist gestört.“