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Spitzenkandidat der SPD im Porträt Carsten Sieling: Der Sachliche

Carsten Sieling soll für die SPD den Fall ihrer Bastion Bremen verhindern. Der Bürgermeister bestreitet den Wahlkampf mit Sachargumenten. Er kann nicht anders.
12.05.2019, 06:00 Uhr
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Carsten Sieling: Der Sachliche
Von Jürgen Theiner

Carsten Sieling wirkt erstaunlich siegesgewiss dieser Tage, seine Stimmung scheint nicht so recht zum Ernst der Lage zu passen. Nach 73 Jahren an der Macht besteht für Bremens Sozialdemokraten erstmals die Gefahr, vom Wähler aus dem Rathaus vertrieben zu werden. Das sagen zumindest die Umfragen, die zuletzt auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU hindeuteten, wobei die Konkurrenz sogar leicht vorn zu liegen scheint.

In einer solchen Situation könnte bei jedem Politiker die bange Sorge durchschimmern, als der Gescheiterte in die Geschichtsbücher oder wenigstens die Parteiannalen einzugehen; als derjenige, der die Schlüssel zur geschleiften Hochburg an die Opposition übergeben muss. Falls den Bürgermeister solche Ängste gelegentlich umtreiben, dann lässt er sie sich zumindest nicht anmerken. Nicht bei öffentlichen Auftritten unterschiedlichster Formate und nicht bei Gesprächen in kleinem Kreise.

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Öffentliche Auftritte – sie waren nie die ganz große Stärke des 60-Jährigen. Carsten Sieling ist nicht die Rampensau, die mit feuriger Rhetorik vollbesetzte Säle zum Kochen bringt. Ihn umgibt auch nicht die Aura eines Henning Scherf. Bremens Bürgermeister ist ein politischer Facharbeiter, der insbesondere auf dem Gebiet der Finanzpolitik sehr beschlagen ist. Eine dröge Materie, leider, aber sie hat Sieling zu seinem bisher größten Erfolg verholfen. 2017 konnte er mit der Neuregelung des Bund-Länder-Finanzausgleichs jene rund 500 Millionen Euro zusätzlicher Haushaltsmittel eintüten, die Bremen ab 2020 jährlich zufließen werden.

Eine halbe Milliarde bleibt allerdings so lange eine abstrakte Größe, bis sie sich in neue Schulen, reparierte Straßen, einen besseren Nahverkehr oder andere für Menschen konkret erfahrbare Verbesserungen umgesetzt hat. Die SPD-Strategen haben Sieling deshalb davor gewarnt, die 500 Millionen im Wahlkampf allzu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Und Sieling folgt diesem Rat.

"Ich bleibe Bürgermeister in Bremen"

Wenn er bei seinen Auftritten auf die Verdienste seines Senats zu sprechen kommt, dann zählt er Dinge auf wie die kommende Beitragsfreiheit für Kindertagesstätten, die Steigerung bei fertiggestellten Wohneinheiten oder den Landesmindestlohn. Und er beschwört die unsoziale Alternative, die von der politischen Konkurrenz verkörpert werde.

Diese Nummer zieht, insbesondere bei der Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft, die sich an einem Freitagabend Ende April im BLG-Forum in der Überseestadt versammelt hat. Die Bundesvorsitzende Andrea Nahles hat sich schon heiser geschrien, als sie das Mikrofon in ihren Schlussapplaus hinein an Sieling übergibt. „Ich bleibe Bürgermeister in Bremen“, formuliert er gleich zu Beginn sein Ziel, das mit dem politischen Führungsanspruch der SPD einhergeht.

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Erneut brandet Applaus auf, den etwa 300 Parteimitgliedern und Funktionären gefällt, was sie hören. Das gilt auch für die Art der Darbietung. Sieling ist ja normalerweise kein beeindruckender Redner, er verhaspelt sich oft oder verliert sich in ausufernden Satzstrukturen, doch diesmal bringt er seine Botschaft vergleichsweise knackig rüber. Und die lautet: Wir stehen für das soziale Miteinander in der Stadt, für die Hinwendung zu den Schwächeren.

Der CDU wirft er „pharisäerhaftes Verhalten“ vor. Den Neustädter Hafen zuzuschütten und gleichzeitig die schützende Hand über Golf und Pferdesport auf dem Hemelinger Rennbahngelände zu halten: das sei keine Politik, die den normalen, arbeitenden Menschen weiterhelfe. Überboten werde dies nur noch vom „Raubzug durch das Bremer Tafelsilber“, den die FDP mit der Privatisierung staatlicher Unternehmen anstrebe. Wieder Applaus, Sieling hat den Nerv der Basis getroffen.

Verstärkung von Hamburgs Bürgermeister

Die Basis auf einen starken Schlussspurt einzuschwören, ist das Eine. Die wichtigere Aufgabe liegt natürlich darin, in einem Wahlkampf, der so eng wie nie ist, die Bürger zu erreichen. Carsten Sieling bemüht sich darum. Er besucht viele Termine, die Begegnungen mit ganz normalen Leuten versprechen. Zum Beispiel bei der Eröffnung der Osterholzer Gewerbeschau am Weserpark. Verstärkung erhält Sieling an diesem Sonnabendmorgen von Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher, der in Osterholz aufgewachsen und dankenswerterweise so farblos ist, dass sogar Carsten Sieling neben ihm wie ein Paradiesvogel wirkt.

Vor dem Rundgang genügt Sieling zunächst einer angenehmen Pflicht, indem er die Eintrittsformulare zweier neuer Parteimitglieder unterschreibt („Man sieht, dass die SPD immer noch große Unterstützung hat und eine Volkspartei ist“). Als er dann zusammen mit Tschentscher – und lästigerweise auch mit CDU-Bürgerschaftsvize Frank Imhoff, der sich partout nicht abschütteln lässt – an den Ständen entlangschlendert, kommen allerdings nicht sonderlich viele Bürgerkontakte zustande.

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Ein Mittfünfziger, der von selbst auf Sieling zugeht, ist eher die Ausnahme. „Ich möchte einmal die Hand des Bürgermeisters schütteln“, sagt der Weserparkbesucher und versichert: „Meine Stimme haben Sie!“ Das hebt die Stimmung. Ein kleiner Zusatz tut dem keinen Abbruch: „Stellt mal den Kevin Kühnert ein bisschen in den Schatten. Will der vielleicht 'ne neue DDR aufbauen?“

Nach dem Gewerbeschautermin setzt sich die Kolonne aus Hamburger und Bremer Dienstwagen Richtung Innenstadt in Bewegung. Dort hat die SPD in der Sögestraße einen Info-Stand aufgebaut, an dem sich nun auch Carsten Sieling rege betätigt. Er greift sich einen Schwung Broschüren und versucht, das Papier unters Volk zu bringen. Längst nicht alle Leute, die seinen Weg kreuzen, scheinen zu erkennen, wen sie vor sich haben. Das gilt allerdings nicht für einen Rentner, der jetzt entschlossenen Schrittes auf den Bürgermeister zugeht.

Das sozialdemokratische Credo

Sieling ahnt wahrscheinlich: Die nächste Viertelstunde bin ich hier festgenagelt. Und so ist es dann auch. Der Senior erinnert Carsten Sieling daran, dass man sich vor dreieinhalb Jahren mal in der Vahr begegnet sei. „Damals hatten Sie Sigmar Gabriel dabei, ihre rechte Hand“, macht der Rentner einen gar nicht mal so schlechten Scherz, um dann aber recht weitschweifig zunächst einige Probleme mit der Sozialbehörde zu schildern und anschließend seinem Ärger über den Wohnungskonzern Vonovia Luft zu machen. Das gibt Sieling Gelegenheit einzuhaken. Man wolle dazu kommen, die schon länger in der Kritik stehenden Nebenkostenabrechnungen der Vonovia zu überprüfen. Und überhaupt sei ja das sozialdemokratische Credo: „Wohnung darf keine Ware sein.“

Einige Tage später gibt eine Veranstaltung im Viertel dem Bürgermeister Gelegenheit, diesen Kernsatz zu wiederholen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat zu einer Debatte über die kritische Lage am Wohnungsmarkt eingeladen. Auf den Stuhlreihen in der Gaststätte Altes Fundamt haben knapp 100 Leute Platz genommen, sie sehen allesamt nicht wie unentschlossene Wähler aus. Eher typisches Viertel-Publikum mit klaren grünen, linken oder sozialdemokratischen Neigungen.

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Der Moderator stellt eingangs ein paar konkrete Fragen zur Lage am Bremer Wohnungsmarkt und bittet das Podium darum, nicht mit allgemeinen sozialpolitischen Statements zu kommen. Die Politiker schert das nicht im Geringsten, sie tun zunächst einmal genau das. Carsten Sieling etwa singt das Hohelied auf die kommunalen Wohnungsgesellschaften, die in Bremen ein Gegengewicht zu börsennotierten Immobilienunternehmen bildeten. Als die Diskussion weiter voranschreitet, zeigt sich Sieling auch in Details sattelfest. Er kennt den Stand der Bauleitplanung an der Kohlhökerstraße, man kann ihn da nicht vorführen.

Er widersteht der Versuchung

Sieling weiß nicht nur beim Thema Bauen Einzelheiten, die man eher von einem Fachsenator erwarten dürfte. Er wirkt kenntnisreich, aber er kommt nicht aus sich heraus. Das Publikum erlebt einen Finanzexperten, dem man gesagt hat „Mach mal Wahlkampf“, der aber nicht so recht weiß, wie man das anstellt. Sieling agiert zahm, ganz anders als Kristina Vogt (Linke), die mit einer Kampfansage an die Miethaie Stimmung in die Bude bringt. Sieling widersteht auch der Versuchung, den Ball ins leere Tor zu schlenzen, als sich die Gelegenheit dazu bietet.

Sigrid Grönert (CDU) hatte zuvor Unkenntnis ihres eigenen Wahlprogramms erkennen lassen und behauptet, der Grundsatz „Privat vor Staat“ komme darin nicht vor. Sieling scrollt kurz auf seinem Handy und teilt Grönert dann höflich mit, auf welcher Seite des CDU-Programms sie den Satz finde. Wahlkämpfer von altem Schrot und Korn hätten daraus ein Spektakel gemacht und den Kontrahenten der Lächerlichkeit preisgegeben, um dann mächtig Applaus einzuheimsen. Nicht so Carsten Sieling. Man kann das für ein Zeichen von Fairness halten. Oder für langweilig. Aber Sieling bewirbt sich am 26. Mai ja auch nicht als Entertainer.

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