Nostalgie ist gerade schwer angesagt, da erinnert sich auch der Musical-Experte Martin G. Berger seiner Kindheitslektüre und bringt Erich Kästners Kurzroman "Der 35. Mai" auf die Bühne. Was er im Theater Bremen aus der etwas fahrigen Geschichte herausholt, kann sich durchaus sehen und vor allem hören lassen.
Kästners drittes Kinderbuch, 1932 nach "Emil und die Detektive" und "Pünktchen und Anton" erschienen, gilt als sein in jeder Hinsicht dünnstes. Die Geschichte vom Schüler Konrad, der mit seinem Apotheker-Onkel Ringelhuth und einem sprechenden Pferd durch den Kleiderschrank Richtung Südsee reist und dabei vier Traumwelten – Schlaraffenland, Ritterburg, Reich der Kinder und Stadt der Zukunft – durchquert, ist ein eher grob geleimtes Roadmovie, eine Berliner Version von "Alice im Wunderland". Auch seine Seitenhiebe auf Militarismus und auf "Erziehungsberechtigte, die erziehungsbedürftig sind", hat Kästner anderswo prägnanter platziert. Ja, seine "Südsee" strotzt vor kolonialistischen Vorstellungen.
Anders als im Buch: Martin G. Berger vertraut Kästners Text über weite Strecken, setzt aber zwei wichtige eigene Akzente. So inszeniert er Konrad und Onkel Ringelhuth als Außenseiter, hier der gehänselte Mathe-Crack, dem es angeblich an Fantasie mangelt, dort der verspielte (schwule?) Apotheker, der eine Kundin verwirrt. Überdies ist Konrad – Disney lässt grüßen – ein Waisenjunge, der nach dem Tod seiner Eltern im Internat lebt und hofft, dass Onkel Ringelhuth ihn adoptiert, das gibt reichlich Gelegenheit für gefühlvolle Momente. Außerdem fabuliert Berger Kästners Südsee zum queeren Nachtclub mit Dragqueen und Freitreppe um, in dem gesellschaftliche Vorurteile nicht gelten, und sichert sich damit eine tolle, wenn auch viel zu kurze Shownummer.
Der Ort der Fantasie: Im Mittelpunkt der Bühne steht auf einem Cabaret-Podest – drei Stufen voller Glühlampen – das Schlafzimmer von Onkel Ringelhuth, am Tisch brütet Konrad am Aufsatz über die Südsee (Bühne: Sarah-Katharina Karl). In diese intime Bürgerlichkeit stürmt das Zirkusross Nero Caballo (bei Kästner "Negro Kaballo", schwarzes Pferd) als leibhaftige Ausbruchsfantasie. Auch die vier Wunderländer mit Faulpelzen in senkrechten Betten, historischen Muskelprotzen beim Ritterturnier, Kindern, die die Erwachsenen zur Umerziehung in die Schule schicken, und roboterhaften Menschen in Metropolis sind hier angesiedelt: Der Chor von Karl Bernewitz und Kostümbildnerin Esther Bialas leisten überall Vorzügliches. Manche Vorgänge erscheinen zudem als Schatten auf dem Vorhang, der sich drumherum zieht.
Mit Schwung nach Noten: Den theatralen Pep liefert aber vor allem die Musik. Berger und seine Mitstreiter – der Berliner Songwriter Jasper Sonne und der neue Chefdirigent der Dresdner Staatsoperette, Michael Ellis Ingram – imitieren mit viel Geschick den großen Musicalton à la "My Fair Lady" und den Tanzlokalsound der 1920er-Jahre. Unter dem guten Dutzend großer Nummern sind echte Ohrwürmer, das Auftrittslied des Pferdes, "Ich bin Nero Caballo", gehört ebenso dazu wie die Ensembleszene "In der Südsee ist alles erlaubt". Diese Hits sind das größte Plus des Abends, die recht groß besetzten Bremer Philharmoniker unter Stefan Klingele auf der Hinterbühne haben hörbar Freude daran.
Die großen Auftritte: Auch alle Akteure legen sich mächtig ins Zeug. Als steppendes Pferd auf dem Flur gibt die erfahrene Musical-Darstellerin Stefanie Dietrich den frechen Ton vor, überdies hat sie drei der besten Musiknummern zu singen – für Rosswurst auf dem Freimarkt wäre dieses Pferd in jedem Fall zu schade. Claudio Gottschalk-Schmitt, ebenfalls als Gast, bringt genau die jungenhafte Sprödigkeit mit, die Konrad gut ansteht. Aus dem Hausensemble sticht Christoph Heinrich hervor, der den Onkel als vielschichtigen Charakter anlegt. Die Songschreiber gönnen den großen Stimmen, die in vielen kleineren Rollen antreten, ziemlich flippige Soli und allerlei Anspielungen von der "Zauberflöte" bis zu Wagners Wotan. Elisa Birkenheier, Ulrike Mayer, Ian Spinetti sowie die Ensemble-Neulinge Fabian Düberg und Arvid Fagerfjäll glänzen hier aufs Beste, wobei Letzterer als diskrete Dragqueen Mama Rabenaas für den Clou am Ende der Reise sorgt.
Einige Längen: Wo sich Berger zu sehr an Kästners Vorlage klammert, hängt die Uraufführung dagegen durch. In den Traumländern lahmt das Geschehen, speziell rund um die Pause, wenn sich die sentimentalen Lieder häufen. Auch misslingt der Regie manche optische Umsetzung, etwa die Explosion der Zukunftsstadt oder die Fahrt über den Äquator (bei Kästner ein Rollband auf dem Wasser). Dass Onkel Ringelhuth von einem Hai attackiert und von Konrad gerettet wird, erschließt sich aus dem verzappelten Trockenschwimmen nicht. Zu oft behilft sich Berger mit Kinderslapstick nach dem Motto: Ich tue jetzt mal so, als ob ich einen Ball ins Auge bekomme.
Und wenn man schon sechs Musicaltänzerinnen und -tänzer zur Verfügung hat, müsste man sie entschieden häufiger für flotte Showeinlagen einsetzen. Auch ein steppendes Pferd, das auf Rollschuhen fahren möchte, verdient mehr als eine kurze Tanznummer zu Beginn.
Unterm Strich: Ein ausgewachsenes, solides Stadttheater-Musical voller Top-Musik, das mit fast drei Stunden für Kinder allerdings zu lang ausfällt und für Erwachsene etwas sehr naiv daherkommt. Aber wem "Hello, Dolly!" gefallen hat, der wird auch hier seinen Spaß haben.