Nur etwa acht Minuten dauert der Auftritt der Sopranistin im Finale von Gustav Mahlers 4. Sinfonie, da liegt es nahe, die Solistin noch anderweitig zu beschäftigen. Zumal wenn sie eine so erstklassige Gestalterin ist wie jetzt Chen Reiss in der Glocke. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter Tarmo Peltokoski versicherte sich der Sängerin deshalb auch für Robert Schumanns heiklen Liederzyklus „Frauenliebe und -leben“ von 1840.
„Ich will ihm dienen, ihm leben,/ Ihm angehören ganz,/ Hin selber mich geben und finden/ Verklärt in seinem Glanz“, die Gedichte Adelbert von Chamissos befremden heute. Eine Frau, die sich allein über ihren Mann definiert: Der innerlich zerrissene von Chamisso – in Preußen lebender Frankreich-Flüchtling und republikanisch gesinnter Adeliger – mag in diesem Biedermeier-Idyll Trost gefunden haben. Schumann wiederum wollte womöglich die gerade schwer erkämpfte Liebesheirat feiern und seiner Clara die Hausfrauentätigkeit schmackhaft machen. Trotzdem: In Zeiten der Emanzipation sind solche Verse nur noch schwer erträglich.
Umso höher war zu rühmen, wie natürlich Chen Reiss die acht Lieder vortrug. Mit ihrer relativ kleinen, aber gut fokussierten Koloraturstimme formte sie den Text wortdeutlich aus, vermied jedoch jede Überidentifikation. Wie sie etwa den Verzierungsschnörkel in "Er, der Herrlichste von allen" gurrte, wurde eine leichte Überspanntheit, eine sanfte Distanz spürbar. Auch die 19 Jahre alte Orchestrierung des Wiener Operndirigenten Conrad Artmüller mit ihren romantischen Streichertupfern und Bläserfarben erwies sich als nützlich. Anders als beim Vortrag mit Klavier lagen die peinigenden Reime nun nicht allzu sehr auf dem Präsentierteller. Peltokoski hielt zügig auf die zwei verinnerlichten Lieder Nr. 6 und 8 zu. Als die Frau zuletzt den Tod ihres Mannes beklagte, entfaltete die Kammerphilharmonie eine intime Klanglichkeit, die dann doch anrührte.
Auch Gustav Mahlers 1901 uraufgeführte 4. Sinfonie wurde von bewusstem Klangsinn getragen. Die vier Sätze befinden sich ja im ständigen Zustand des "Als ob": Die Schellen der Narrenkappe am Anfang klingeln eine ausdauernde Irreführung des Hörers herbei. Nichts ist gemeint, wie es scheint. Schon die schlichte Tonart G-Dur täuscht, im zweiten Satz spielt der Tod auf einer um einen Ganzton höher gestimmten Geige bedrohlich auf (der vorzügliche Konzertmeister Jonathan Stone), und das neckische Finale über "Das himmlische Leben" nach "Des Knaben Wunderhorn" erweist sich als garstig’ Lied – Englein führen Tiere reihenweise zur Schlachtbank.
Groteskes in Großaufnahme
Peltokoski schien die Hörer mit der Nase auf diese Ironie stoßen zu wollen, der junge Finne bot eine Extrem-Interpretation mit heftigen Tempowechseln und Dynamikkontrasten. Er unterstrich die Ironie des Beginns durch theatralische Verbreiterungen, ließ die Holzbläser wild kreischen, Fortissimo-Entladungen tönten nach Dynamit. Die reduzierte Orchesterfassung von Yoel Gamzou vermittelte die grotesken Momente in Großaufnahme: Man durfte sich wie ein Wanderer im Weltgerichtsbild von Hieronymus Bosch fühlen.
Manchem Hörer mochte da der sinfonische Fluss, der strukturelle Zusammenhalt fehlen. Doch zeigte sich, dass Mahlers Musik diese Bizarrerie hergibt und ihre offensive Präsentation aushält. Bis hin zu dem von Chen Reiss mit weitem Atem vermittelten Grusel-Paradies und dem Trauerzug für die Tiere wirkte diese Vierte wie ein musikalischer Schock. Als habe Mahler das Artensterben vorauskomponiert.