Die Leute kommen und gehen, so ist es meistens. Die Überseestadt verbindet man eher mit Ersterem: Sie ist im Kommen. In den ehemaligen Hafengebieten gestaltet Bremen eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas – das zieht die Menschen an. Erst kamen die Unternehmen, dann die wohlhabenden Mieter und zuletzt auch diejenigen mit weniger Geld. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Einwohnerzahl annähernd verzehnfacht: Ende 2021 lebten fast 4000 Menschen in der Überseestadt.
Torben Klarl geht. Er steckt mitten in den Umzugsvorbereitungen. Mit Frau und Kind hat Klarl ein Haus in einem anderen Stadtteil angemietet, sechseinhalb Zimmer, viel Platz. Nach sechs Jahren wird er die Überseestadt verlassen. Er kenne vier andere Paare aus der Nachbarschaft, die bereits weggezogen seien, sagt der 43-Jährige. Die Gründe sind ihm zufolge immer ähnlich: Das Wohnumfeld habe sich verschlechtert, das Sicherheitsgefühl abgenommen. Er berichtet von mehr Dreck, von Spritzen auf dem Spielplatz am Überseepark. Viele Nachbarn seien verärgert.
Ortsbesuch an einem Donnerstagvormittag Ende Januar. Zwischen den weißen Zelten der anliegenden Flüchtlingsunterkunft herrscht wenig Betrieb. Auf einem der beiden gepflegten Kunstrasenplätze schießen ein paar Jungs einen Ball durch die Gegend. Ansonsten ist nicht viel los. Auf dem Spielplatz liegt eine Papiertüte, die Skateanlage könnte sauberer sein, das war's. Hundert Meter weiter Richtung Weser geht ein Passant mit seinem Hund Gassi, ein paar kurze Fragen. Müll und Lärm hätten zugenommen, erzählt der Mann. Er wohne in der Nähe, mehr will er nicht sagen.
Im Spätsommer hatten sich Anwohner wiederholt über Müllansammlungen und Ruhestörungen bei der Polizei beschwert. Eine Frau berichtete von alkoholisierten und lärmenden Menschen; den Spielplatz traue sie sich mit ihrer Tochter nicht mehr zu besuchen. "Für die Miete, die wir hier zahlen müssen, ist es unverantwortlich, dass sich niemand darum kümmert", sagte sie dem WESER-KURIER.
Ein halbes Jahr später teilt die Polizei auf Anfrage mit, dass sich die Lage beruhigt habe. Ob das an der Jahreszeit liege, könne man nicht bewerten. Auf die Flüchtlingsunterkunft bezogen sei die Gesamtsituation "unauffällig". Die Polizei musste laut eigenen Angaben seit September neun Mal dorthin ausrücken – unter anderem wegen Körperverletzung, Diebstahl und Hausfriedensbruch.
Der Unmut in Teilen der Überseestadt hat auch mit der Flüchtlingsunterkunft zu tun. Es gehe dabei, so berichten einige Anwohner, weniger um die Flüchtlinge selbst – und mehr um Probleme, die aus dem plötzlichen Bevölkerungswachstum resultierten. Der Spielplatz am Überseepark sei der einzige in der näheren Umgebung, sagt Klarl. Die Sozialbehörde spricht von einer Entlastung, seitdem die Bewohner der Zeltstadt Busse und Bahnen nutzen könnten. Für einen Spielplatzbesuch, erwidert Klarl, werde wohl kaum jemand mit dem Bus in einen anderen Stadtteil fahren. "Die Infrastruktur reicht einfach nicht aus", sagt er. "Das war auch schon vor dem Bau der Zeltstadt der Fall, aber offenbar ist das jetzt gerade für viele Anwohner zu viel."
Klarl ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bremen, wo er auch zu Immobilienmärkten forscht. Als Wissenschaftler trenne er persönliche Einzelfallerfahrungen und objektiv messbare Sachverhalte. Um die Entwicklungen in der Überseestadt genauer zu beschreiben, brauche es eine wissenschaftliche Datenbasis, stellt er klar.
Als Ökonom spricht Klarl davon, dass er auch die "weichen Faktoren" in die Beurteilung der Miete einpreise. Zu dieser "Preisprämie", erklärt Klarl, gehörten Faktoren wie nachbarschaftliches Umfeld, Infrastruktur, Erreichbarkeit und Sicherheitsgefühl. "Die Zahlungsbereitschaft ändert sich natürlich, wenn sich das Umfeld verändert", sagt er. Für Klarl selbst ist das Preis-Leistungs-Verhältnis in Schieflage geraten – also zieht er um. Weil er es sich leisten kann, wie es sich viele alteingesessene Bewohner leisten können.
Verallgemeinern will Klarl seine Erfahrungen nicht. Wer aus welchen Gründen die Überseestadt verlasse, könne man nur mit einer geeigneten Datengrundlage herausfinden. "Die Stadt sollte allerdings ein starkes Interesse daran haben, der Frage wissenschaftlich fundiert nachzugehen", sagt der 43-Jährige. Einige Antworten könnten schon bald folgen: Studenten und Studentinnen der Hochschule Bremen haben Haushalte in der Überseestadt zu ihrer Lebenszufriedenheit befragt. Am 14. Februar werden die Ergebnisse in der Blauen Manege vorgestellt, eine Querstraße vom Überseepark entfernt.

Das Blauhaus: ein inklusives Wohnprojekt.
Das passt, weil die Blaue Manege selbst die Entwicklung der Überseestadt widerspiegelt. Die Flüchtlingsunterkunft mag einiges verändert haben, aber der Wandel hat schon Jahre vorher begonnen. Die Blaue Manege gehört zum Blauhaus, in dem seit 2019 Menschen mit und ohne Behinderung zusammenleben – ein inklusives Modellprojekt. Die Überseestadt ist längst nicht mehr den Gutverdienern vorbehalten. Das mag schwer zu glauben sein, wenn man am Winterhafen entlangläuft, vorbei an den zahllosen Fassaden aus Chrom und Glas. Neben dem Landmark-Tower bewirbt das Restaurant Riva auf einer Tafel Glühwein-Spritz für 9,20 Euro.
Den Glühwein-Preisen zum Trotz: Die Überseestadt wird mehr und mehr zu einem gemischten Viertel. 1000 neue Sozialwohnungen sind in dem Ortsteil laut einer Anfrage des SPD-Baupolitikers Falk Wagner bis Ende 2021 entstanden. "Die Überseestadt wandelt sich, aber zum Guten", sagt Wagner. Aus den Problemen mit der Flüchtlingsunterkunft macht er keinen Hehl. Er könne auch die Sorgen der Bewohner nachvollziehen, die vor zehn Jahren unter anderen Vorzeichen in die Überseestadt gezogen seien.
Wagner sagt aber auch: "Für all diejenigen, die nachbarschaftlich wohnen wollen, wird es Stück für Stück besser." Die Überseestadt biete heute für junge Familien bessere Voraussetzungen als noch vor einigen Jahren – mehr Kitas, Schulen und Grünflächen, mehr Einkaufsmöglichkeiten. Die Infrastruktur sei immer noch ausbaufähig, aber die positive Entwicklung deutlich erkennbar.
Torben Klarl sieht das anders. Die Überseestadt zeige lehrbuchhaft, wie durch eine zunehmend überlastete Infrastruktur die Aufenthaltsqualität gemindert werde. Prinzipiell begrüße er das Konzept des gemischten Viertels, versichert der Uni-Professor. Eine langfristige und nachhaltige Planung habe es für die Überseestadt aber offenbar nicht gegeben. Hochpreisige Wohnungen würden häufig durch "clusterartige Sozialwohnungen in zweiter Reihe ergänzt", sagt Klarl. Die Folgen seien der Forschung zufolge "negative Nachbarschaftseffekte".
Für eine objektive Bewertung dieser Effekte in der Überseestadt ist es wahrscheinlich noch zu früh. Für sich selbst hat Klarl genügend Erkenntnisse gesammelt: Er verlässt den Ort, der vor sechs Jahren noch ein anderer gewesen ist. Die Überseestadt, so viel lässt sich ziemlich sicher sagen, wird trotzdem weiterwachsen.