Gleich links neben der Eingangstür hängt Mutter Cordes. Mit ernstem Blick schaut die alte Dame auf dem Foto von 1890 in die Kamera. Ihr ist anzusehen, dass sie eigentlich Besseres zu tun hätte. „Mutter Cordes mit Anton“, steht unter dem Foto. Anton ist der Esel, der vor ihren Karren gespannt darauf wartet, dass es endlich losgeht. Sein Ziel: Bremen. „Mutter Cordes hat mit ihrem Karren immer Gemüse von Oberneuland in die Stadt gefahren und dort verkauft“, erzählt Karen Woywod. Sie gehört zu einer Gruppe des Bürgervereins, die sich seit 20 Jahren um das Oberneuland-Archiv im Dachgeschoss des Ortsamts kümmert. Genau genommen ist es kein Archiv, sondern eine Sammlung, sagt Ursula Beckröge. Das habe ihnen ein Mitbürger vor vielen Jahren einmal erklärt, einer vom Fach. „Da gibt es feine Unterschiede“, sagt sie. Welche genau, weiß heute aus der Gruppe niemand mehr so genau. Offiziell heißt das Archiv seither aber deshalb Oberneuland-Sammlung.
Ursula Beckröge war es auch, die seinerzeit vom damaligen Ortsamtsleiter Hermann Kothe angesprochen wurde, ob sie nicht Lust hätte, sich etwas näher mit der Geschichte ihres Stadtteils zu befassen und ein Archiv anzulegen. „Borgfeld hatte eines, und da sollte Oberneuland nicht nachstehen, fand er“, erzählt die 87-Jährige. Warum er bei seiner Wahl ausgerechnet auf sie verfiel, weiß sie nicht. Schließlich sei ihr beruflicher Hintergrund ein gänzlich anderer gewesen: Bis 1997 führte sie eine Confiserie an der Mühlenfeldstraße. Die bloße Erwähnung ihres Ladens reicht aus, damit das Team der Oberneuland-Sammlung für einen Moment abschweift und das tut, was es oft und gerne tut: nostalgisch werden. „Die Ostereier waren unvergleichlich“, schwärmt Almut Meyer. Kay Entholt nickt. Sicher, die Ostereier waren hervorragend, aber am allerbesten waren Beckröges Spitztüten mit Weingummis, betont er.

Zeugnisse der Geschichte Oberneulands.
Seit 30 Jahren ist Entholt Vorsitzender des Oberneulander Bürgervereins. Geschätzt. So ganz genau weiß er das nicht mehr. Neben ihm an einem der Regale hängt ein altes Foto, eine Art Suchbild. An dem können Besucher der Oberneuland-Sammlung ihr Geschichtswissen unter Beweis stellen. Die Damen auf dem Foto von 1919 gehörten dem ersten Oberneulander Frauen-Gesangsverein an. „Kränzchen Edelweiß“ hieß der und stand in Konkurrenz zu zwei Männergesangsvereinen. Die wiederum waren dafür bekannt, einander nicht ausstehen zu können und sich gegenseitig das Leben schwer zu machen, erzählt Entholt. Was das Foto vom Kränzchen Edelweiß zum Suchbild macht, ist ein spärlich beschriebenes Blatt Papier, das darunter geheftet ist. Daneben hängt ein Stift. Anders als bei den Männergesangsvereinen sind der Archiv-Gruppe die Gesichter vom Kränzchen Edelweiß nämlich überwiegend unbekannt. Deshalb hoffe man, dass Besucher beim näheren Hinsehen die eine oder andere Sangesschwester erkennen und ihren Namen auf dem Papier notieren, erklärt der Vorsitzende.
Den Großteil der Oberneuland-Sammlung machen Ordner aus, die in vier langen Regalreihen einsortiert sind und regelmäßig ergänzt werden. Darunter sind auch alte Kirchenbücher – das älteste von ihnen ist von 1664. In den meisten Ordnern sind Artikel abgeheftet, die in irgendeiner Weise einen Bezug zum Stadtteil haben. Auf anderen Ordnern sind bekannte Oberneulander Familiennamen zu lesen, ebenso wie „Vereine“, „Ortsamt“ und „Beirat“. Diese Ordnung hat sich die Gruppe hart erarbeitet, erzählt Annemarie Behrens. Als sie mit der Sammlung auf dem Dachboden begonnen haben, hätten sie kaum mehr als eine lose Zettelsammlung vorgefunden. Unzählige Stunden habe die Archiv-Gruppe anfangs damit zugebracht, das Durcheinander zu sortieren. „Wir haben jedes einzelne Blatt auf dem Fußboden sortiert und in Bananenkartons gepackt“, erinnert sich Karen Woywod. Außerdem habe Ursula Beckröge seinerzeit eigens ein einwöchiges Seminar in Hessen besucht: an der Marburger Archivschule.
700 Klassenbücher der Grundschule Oberneuland
In der letzten Regalreihe unter dem Dachfenster zum Hof steht eine ganz besondere Sammlung von Zeitdokumenten: rund 700 Klassenbücher der Grundschule Oberneuland. Genau genommen dürfe er die gar nicht einsehen, sagt Kay Entholt. Das sei nur ehemaligen Schülern der Schule gestattet, „und ich war in Rockwinkel“. Anders als sein jüngerer Bruder, der ging drüben zur Schule, sagt er und deutet aus dem Fenster. „Der dürfte.“ Die Lektüre der Klassenbücher sei vor allem bei ehemaligen Schülern sehr beliebt, die ein Klassentreffen planen, erzählt Annegret Cyris.
Neben den Regalreihen voller Ordner stehen auf dem Dachboden auch mehrere Vitrinen. In denen wird gesammelt, was sich nicht abheften lässt. Oder was besonders außergewöhnlich ist, wie die mit Blumen verzierten Glückwunschkarten zur Konfirmation und zur Verlobung. Die haben es Karen Woywod besonders angetan. „Sind die nicht entzückend?“ Was nicht in eine Vitrine passt, ist am Ende des Raumes neben einem der Giebelfenster aufgestellt. Dort posieren zwei Schneiderpuppe in Feiertagskleid, Strickweste und Festtagshaube neben einem Spinnrad und einer Wurstpresse von 1900. In einem Nebenzimmer kommen Besucher auf ihre Kosten, die ein Faible für Stoffe mit Geschichte haben. Dort steht der Mitgiftschrank, in dem sich Tischdecken und aufwendig bestickte Leinentücher stapeln – die meisten von ihnen stammen aus Nachlässen, erzählt Entholt.

Schneiderpuppen in Feiertagskleid, Strickweste und Festtagshaube. Daneben stehen ein Spinnrad und eine Wurstpresse von 1900.
Aktualisiert wird die Oberneuland-Sammlung immer dienstags. Das ist der Tag, an dem die Gruppe sich unterm Dach des Ortsamtes trifft, um das Archiv auf den neuesten Stand zu bringen. Jedes Mitglied ist für bestimmte Themenbereiche zuständig, zu denen dann Artikel und Veröffentlichungen aller Art ausgeschnitten, aufgeklebt und eingeheftet werden. Dazu gibt es immer eine Tasse Kaffee und vor allem viele Erinnerungen, die ausgetauscht werden, erzählt Beckröge.
Die Geschichte des Stadtteils am Leben zu erhalten, sei ihnen eine Herzensangelegenheit, sagt sie. Dabei könnten sie perspektivisch allerdings Unterstützung gebrauchen. Die Altersspanne der Gruppe reiche von Anfang 60 bis weit über 80 Jahre – da sei es an der Zeit, dass ein paar jüngere Oberneulander dazustoßen. Die müssten auch nicht zwingend in den Bürgerverein eintreten, betont sie. Das Wichtigste, was die Neuzugänge mitbringen sollten, sei Interesse an der Geschichte Oberneulands. Das sei neben alphabetischen Kenntnissen im Grunde auch schon alles.