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Unterwegs mit Streetworker Drogenabhängige Migranten in Bremen: viel Bedarf, wenig Möglichkeiten

Die Drogenszene in Bremen wächst. Einen nicht unerheblichen Teil davon stellen Migranten. Ausgewählte Streetworker sollen sie in ihrer Muttersprache erreichen. Doch oft sind den Helfern die Hände gebunden.
21.08.2023, 05:00 Uhr
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Drogenabhängige Migranten in Bremen: viel Bedarf, wenig Möglichkeiten
Von Kristin Hermann

Mohsan wollte dieses Leben so nicht für sich, sagt er. Auf seinem Schoß hat er ein Stück Alufolie ausgebreitet, auf dem die Überbleibsel eines Cracksteins liegen, den er zuvor geraucht hat. Seine Arme sind von Narben gezeichnet, er schaut nach unten, wenn er spricht. Vor ein paar Jahren noch hatte er die Hoffnung, dass alles anders werden würde. Besser. Nach seiner Flucht aus Afghanistan habe er in einer niedersächsischen Gemeinde einen Deutschkurs besucht und ein Praktikum als Fräser begonnen. "Es lief ganz gut für mich", sagt er. Doch dann sei sein Asylantrag abgelehnt worden – der 27-Jährige bekam eine Duldung, die nur monatsweise verlängert worden sei. Die Praktikumsstelle habe sich damit erledigt.

Für Mohsan beginnt eine Abwärtsspirale. "Freunde und Bekannte erhielten einen positiven Bescheid, integrierten sich nach und nach. Für sie ging es weiter, während ich zum Stillstand gezwungen war, das habe ich nicht verkraftet", sagt er. Mohsan verfällt den Drogen. Heute ist er obdachlos, schläft regelmäßig in den Containern in der Friedrich-Rauers-Straße, die der offenen Drogenszene als sogenannte Akzeptanzfläche dienen soll. Wohl fühle er sich dort nicht, erst gestern habe man ihm sein Handy gestohlen. Innerhalb der Szene kommt es immer mal wieder zu Auseinandersetzungen. "Aber es ist besser als direkt vor dem Hauptbahnhof. Ich will nicht, dass mich ein Kind dabei beobachtet, wie ich konsumiere", sagt er.

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An diesem Tag bekommt er Besuch von Payam Abbassi. Seit dem vergangenen Jahr arbeitet er bei der Drogenhilfe-Einrichtung "Comeback" im Bereich muttersprachliche Streetwork. Weil Migranten und Geflüchtete inzwischen einen erheblichen Anteil der offenen Bremer Drogenszene ausmachen, sollen sie über Sozialarbeiter, die ihre Muttersprache und kulturellen Hintergründe kennen, eine leichtere Anbindung an das Drogenhilfesystem bekommen. Zwei Stellen gibt es momentan bei Comeback, zwei weitere bei der Ambulanten Suchthilfe.

Unsicherer Aufenthaltstitel erschwert Zugang zu Therapie

Abbassi stammt aus dem Iran, spricht Farsi und hat in seiner Vergangenheit selbst Erfahrungen mit Drogen gemacht. Der 53-Jährige holt ein paar Becher aus seinem Rucksack, teilt Kaffee und Softgetränke aus, fragt, ob jemand etwas zu essen benötigt. Wer will, findet bei ihm ein offenes Ohr. Er hört zu und begleitet bei Bedarf zu Behördengängen, Arztbesuchen oder hilft beim Übergang ins Hilfesystem. Oft ist dieser jedoch gar nicht erst möglich, wie der Fall von Mohsan zeigt. "Geflüchtete Drogenabhängige sind in unserem Hilfesystem Menschen zweiter Klasse. Wer keinen sicheren Aufenthaltstitel hat, für den ist es laut aktueller Gesetzeslage in Deutschland fast unmöglich, eine Therapie zu machen", kritisiert Abbassi. Menschen, die eine Duldung haben, stehe beispielsweise nur eine medizinische Grundversorgung zu, zu der Therapien in der Regel nicht zählten.

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Das bestätigt das Bremer Gesundheitsressort. "Häufig ist die Duldung oder der Status ungeklärt, auch weil aufgrund der Sucht Fristen versäumt werden", sagt Behördensprecherin Diana Schlee. "Zudem gibt es die Problematik, dass viele Menschen tatsächlich aufgrund ihres Aufenthaltsstatus aus dem Leistungsbezug rausfallen, sodass zum Beispiel der Zugang zu regulärer Substitution verwehrt ist. Das erschwert die Vermittlung in Hilfen sehr."

Streetworker Abbassi schätzt, dass innerhalb der offenen Drogenszene in Bremen der Großteil der Migranten und Flüchtlinge keinen Anspruch auf Therapie hat, gleichzeitig würden sie weiterhin hierbleiben. "Einige davon befinden sich in einem Teufelskreis und werden regelmäßig inhaftiert. Das ist für den Staat unterm Strich teurer, als den Zugang zu passenden Angeboten zu schaffen", ist er überzeugt.

Streetworker wünscht sich weniger Bürokratie

Meist ist Abbassi mit einem Kollegen unterwegs. Ein paar Stunden zuvor beginnen sie ihre Schicht im Kontakt- und Beratungszentrum des Hilfeträgers im Tivoli-Hochhaus am Hauptbahnhof. 25 Stunden arbeitet Abbassi in der Woche für den Träger. Den Großteil der Zeit verbringt er draußen auf der Straße, doch auch die Arbeit mit den Behörden gehört dazu. Oftmals wünsche er sich, er könne Verfahren schneller und unbürokratischer erledigen. "Wenn ich beim Migrationsamt beispielsweise eine Stunde in der Warteschleife hänge, fühlt sich das nach verlorener Zeit an", sagt er.

Im Tivoli-Hochhaus können Drogensüchtige im angedockten Café eine Mahlzeit bekommen, duschen, ihre Kleidung waschen oder in der Kleiderkammer nach neuen Stücken fragen. Eine Etage weiter tiefer erhalten sie sauberes Drogenbesteck. Am Vormittag ist das Café bereits gut gefüllt, doch Abbassi und sein Kollege wissen, dass nicht alle den Weg dorthin finden werden. Sie brechen deshalb zu einer ihrer üblichen Runden auf: entlang der Diskomeile, Richtung Wallanlagen, über den Bahnhof bis zur Friedrich-Rauers-Straße.

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In den Wallanlagen halten sich bereits mehrere Drogenabhängige auf – konsumiert wird praktisch rund um die Uhr. Die Streetworker kennen die meisten von ihnen, doch jede Woche seien neue Gesichter darunter. Der überwiegende Anteil innerhalb der Szene sei männlich. "Es sind aber auch vereinzelt Frauen dabei. Bei ihnen wird aber oftmals noch mehr von der Familie versucht, die Sucht zu vertuschen", sagt Abbassi. Offizielle Zahlen, wie viele Migranten und Geflüchtete sich innerhalb der offenen Drogenszene rund um den Hauptbahnhof und in den Stadtteilen drumherum aufhalten, gibt es nach Angaben der Gesundheitsbehörde nicht. Abbassi schätzt die Gruppe auf 200 bis 250 Personen.

Darunter sind laut Comeback Menschen, die auf der Flucht oder erst hier abhängig geworden sind – Menschen, die bereits in zweiter Generation hier leben, oder jene, die schon in ihren Heimatländern süchtig waren. In Ländern wie Iran oder Afghanistan gibt es bereits seit vielen Jahren Opiatabhängige. Ein nicht unerheblicher Teil komme aus dem Umland nach Bremen, da sie hier leichter an illegale Substanzen gelangen würden als auf dem Land oder der Kleinstadt. Je nach Herkunftsland der Abhängigen gebe es Unterschiede im Umgang mit Drogen und der Art der konsumierten Substanzen.

"In einigen Ländern gibt es überhaupt kein Hilfesystem"

Die muttersprachlichen Streetworker sehen sich als eine Art kulturelle Vermittler. "In einigen Ländern gibt es überhaupt kein Hilfesystem, weil Sucht nicht als Krankheit anerkannt wird", sagt Abbassi. Zwar habe es schon immer wohlhabende Familie gegeben, die ihre Kinder im Falle einer Suchterkrankung in teure Privatkliniken ins Ausland geschickt haben, doch das sei die Ausnahme. "Andere werden in den Keller gesperrt, sollen zu Allah beten oder Pillen nehmen, um ihre Sucht zu bekämpfen. Drogenabhängigkeit bedeutet oftmals Schande für die Familie."

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Abbassi und seine Kollegen versuchen deshalb, erst einmal über das deutsche Suchthilfesystem und Präventionsarbeit aufzuklären. Einige, die er trifft, sind offen dafür, andere sind an dem Punkt ihrer Sucht vielleicht noch nicht so weit. "Abhängige haben keine Gnade mit niemandem, auch mit sich selbst nicht", sagt Abbassi aus eigener Erfahrung. Er habe damals vor allem mit Selbsthilfegruppen den Ausstieg geschafft und will etwas zurückgeben, weshalb er seit vielen Jahren in der Suchthilfe arbeitet, unter anderem war er auch in Hamburg und Berlin tätig. "Ich würde mir wünschen, dass sich das Suchthilfesystem für Flüchtlinge weiter öffnet", sagt der Streetworker weiter.

Denn selbst, wenn eine Therapie mit ihrem Aufenthaltstitel machbar wäre, fehle es an kultursensiblen Einrichtungen in Deutschland und an muttersprachlichen Angeboten. "Es ist wichtig, die deutsche Sprache zu lernen, aber das kann man nicht von einem Süchtigen erwarten, das muss nach und nach kommen", sagt Abbassi.

Neben der muttersprachlichen Streetwork gibt es in Bremen nach Angaben der Gesundheitsbehörde aktuell bei der Ambulanten Suchthilfe ein Gruppenangebot für süchtige Geflüchtete, in dem sie unter anderem einen besseren Umgang mit Gefühlen lernen sollen. Im Koalitionsvertrag hat die neue Regierung festgehalten, bestehende Angebote weiter auszubauen. Wie das konkret aussehen soll, ist jedoch noch überwiegend unklar.

Zur Sache

Interkulturelle Suchthilfe in Berlin

In Berlin gibt es die sozialtherapeutische Einrichtung ADV Nokta, bei der Männer aus verschiedenen Kulturen eine stationäre Drogentherapie machen können – auch Menschen, die einen ungeklärten Aufenthaltstitel haben, also beispielsweise nur eine Duldung, können das zwölfmonatige Programm durchlaufen. Es werden verschiedene Sprachen gesprochen, und auch bei migrationsspezifischen Problemen gibt es Hilfe. Die Einrichtung ist nach eigenen Angaben damit bundesweit einzigartig. Eine Kostenübernahme durch die Kranken- oder Rentenversicherung sei nicht erforderlich. Es reicht, wenn die Hilfe zum Lebensunterhalt und anteilige Mietkosten vom Sozialamt getragen werden.

„Zu uns kommen Menschen mit multiplen Problemlagen“, sagt Einrichtungsleiterin Dominique Prcic. „Dazu zählen persönliche und familiäre Probleme, aber auch straf-, sozial- und ausländerrechtliche Dinge.“ Die Therapie ist auf insgesamt zwölf Monate ausgelegt. Ziel ist es, anschließend ein selbstständiges, drogen- und straffreies Leben zu führen.

Dafür sollen die Bewohner so gut es geht selbst für sich sorgen. Sie gehen einkaufen, kochen und halten das Anwesen in Ordnung. Bei Nokta arbeiten keine Therapeuten oder Ärzte, sondern Menschen, die in der Vergangenheit selbst mit einem Suchtproblem konfrontiert waren sowie Sozialarbeiter. Insgesamt bietet die Einrichtung 14 Plätze an, auch Menschen aus anderen Bundesländern können dort einen Platz beantragen.

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