Der Fall beginnt wie eine normale Patientengeschichte. So, wie sie wohl täglich in Deutschland passiert. Routine für Rettungsdienste und Krankenhäuser. Nur wenige Tage später wird aus dem medizinischen Notfall ein mysteriöser Vergiftungsfall, der nicht nur die Bremer Behörden alarmiert. Bundesweit sorgt er für Schlagzeilen – weil nicht klar ist, ob es sich um einen Giftanschlag im Zusammenhang mit einer Produkterpressung handelt und damit weitere Leben in Gefahr sind. Die Auflösung ist selbst für die Ermittler eine Überraschung.
Mitte Juli 2012: Ein 56-jähriger Bremer wird in ein Krankenhaus eingeliefert, aufgrund der Symptome besteht der Verdacht, dass es sich um einen Herzinfarkt handelt. Ärztinnen und Ärzte untersuchen den Mann, nehmen eine Reihe von Tests vor, unternehmen alles, um der Ursache für seine Beschwerden auf den Grund zu gehen und mit der Behandlung zu beginnen. Der Verdacht bestätigt sich nicht, der 56-Jährige hat keinen Herzinfarkt erlitten. So viel ist sicher. Was aber der Grund für die schweren Krankheitssymptome ist, dafür gibt es zu diesem Zeitpunkt keine Erklärung. Der Mann erholt sich und kann das Krankenhaus nach etwa einer Woche wieder verlassen.
Anders seine 54-jährige Frau: Zwei Tage nach der Krankenhaus-Einlieferung des 56-Jährigen finden Angehörige die Ehefrau bewusstlos in der Wohnung. Der Frau geht es so schlecht, dass sie in ein künstliches Koma versetzt werden muss. Die Polizei wird eingeschaltet. Ein Zufall? Gemeinsam mit dem 56-Jährigen suchen die Ermittler nach den Ursachen der plötzlichen Erkrankung des Paares. Gibt es einen Zusammenhang? Wo haben sich beide in den vergangenen Tagen aufgehalten? Was haben sie gegessen und getrunken? Waren sie in einem Restaurant? Die Befragungen führen zu einer Gemeinsamkeit: Beide haben ein bestimmtes Fruchtsaftgetränk zu sich genommen. Die wieder verschließbaren Trinktüten werden in der Wohnung des Paares sichergestellt und zur Untersuchung in ein Labor gebracht.
Freitag, 20. Juli 2012: Die Polizei geht mit dem „mysteriösen Fall“ an die Öffentlichkeit, der WESER-KURIER berichtet einen Tag später unter der Überschrift „Ehepaar trinkt vergifteten Saft“. Die Laboranalyse bestätigt den Verdacht: In den sichergestellten Trinktüten wird eine Substanz nachgewiesen, die für die schweren Krankheitssymptome des Paares verantwortlich ist. Die Polizei veröffentlicht auch den Namen des Getränks – Capri-Sonne –, weil unklar ist, ob auch andere Trinkbeutel die Substanz enthalten könnten. Die Polizei fahndet mit Hochdruck danach, wo das Paar die Safttüten gekauft hat und wie sie in den Haushalt der Eheleute gelangt sind.
Der Hersteller und die Behörden stehen in engem Kontakt. Fest steht, wie der WESER-KURIER berichtet, dass die Substanz von außen in den Beutel eingebracht wurde – ein Qualitätsmangel in der Produktion liege nicht vor, wie das Unternehmen in einer Pressemitteilung betont. Das wird von der Polizei bestätigt. Auch eine Produkterpressung, wie anfangs in Erwägung gezogen, schließen die Behörden „nach allen bisherigen Erkenntnissen aus“, wie Polizeisprecher Dirk Siemering sagt. Der Hersteller bittet jedoch Kunden in Bremen und dem niedersächsischen Umland, beim Kauf von Trinktüten der Marke auf mögliche Manipulationen am Originalverschluss zu achten. Die genaue Zusammensetzung der Substanz ist der Kriminalpolizei nach Laboruntersuchungen des Landeskriminalamts zwar bekannt. Aus ermittlungstechnischen Gründen wird sie jedoch nicht genannt. Die Suche nach Motiv und Täter läuft auf Hochtouren. Die zentrale Frage: Gilt der Anschlag gezielt dem Ehepaar? Oder sind sie Zufallsopfer?
Montag, 23. Juli 2012: Die Frau befindet sich nach wie vor im künstlichen Koma. Die Ermittler hoffen, sie in der nächsten Woche vernehmen zu können, wie ein Polizeisprecher sagt. Noch immer ist unklar, woher das Getränk stammt, von dem sie am 10. Juli und ihr Ehemann zwei Tage später getrunken haben. Entwarnung an anderer Stelle: Weitere Vergiftungsfälle sind bislang nicht bekannt geworden, berichtete der WESER-KURIER.
Freitag, 27. Juli 2012: Spektakuläre Nachricht im Vergiftungsfall: Der Ehemann wird festgenommen. Er habe in einer Vernehmung eingeräumt, den Inhalt der Trinktüten manipuliert zu haben, teilt die Polizei mit. Die Ehefrau ist mittlerweile wieder ansprechbar, ob ihre Aussagen oder andere Indizien dazu geführt haben, dass der Ehemann unter Verdacht geraten ist, kommentiert die Staatsanwaltschaft nicht. Gegen den Mann werde sie einen Haftbefehl wegen versuchten Mordes beantragen, heißt es. Um welche Substanz es sich handelt, wollen die Behörden weiterhin nicht mitteilen, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Auch über das mutmaßliche Motiv gibt es bislang keine Auskünfte.
Sonnabend, 28. Juli 2012: Neuerliche Wende: Nachdem die Staatsanwaltschaft einen Tag zuvor mit dem Ehemann einen Tatverdächtigen präsentiert hat und ihn wegen versuchten Mordes an seiner Frau anklagen will, ist der 56-Jährige wieder auf freiem Fuß. Das zuständige Gericht hat es abgelehnt, einen Haftbefehl zu erlassen – die Staatsanwaltschaft soll sich überrascht gezeigt haben. Am Montag wolle die Behörde prüfen, ob sie gegen die Entscheidung des Gerichts vorgehe. Motiv und weitere Umstände sind nach wie vor unklar.
Montag, 30. Juli 2012: „Die bisherigen Ermittlungsergebnisse sind aus Sicht des Richters für den Vorwurf des versuchten Mordes nicht ausreichend“, sagt Gerichtssprecher Karl-Heinz Rogoll. Anders als die Staatsanwaltschaft gehe der Richter bisher nicht davon aus, dass der Mann seine Frau umbringen wollte. Nach dem aktuellen Stand der Erkenntnisse handele es sich eher um eine gefährliche Körperverletzung. Ein Tatvorwurf, für den es nicht zu rechtfertigen sei, den Verdächtigen zu verhaften. Die Staatsanwaltschaft will prüfen, ob sie dagegen Rechtsmittel einlegt. Bis dahin sollen weitere Ermittlungen unternommen werden, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Frank Passade. Zunächst aber verzichtet die Behörde.
Montag, 13. August 2012: Die Staatsanwaltschaft ermittelt weiterhin wegen versuchten Mordes. Wie die Behörde mitteilt, ist die Ehefrau aus dem Krankenhaus entlassen. Bei den Vernehmungen habe sie zu den Vorwürfen gegen ihren Mann bislang nichts sagen wollen. Sie mache von dem Recht Gebrauch, die Aussage zu verweigern. Etwa ein Monat ist es her, dass das Paar von dem Fruchtsaft getrunken hat, dem eine nach wie vor der Öffentlichkeit unbekannte Substanz beigemischt wurde. Der Ehemann hat eingeräumt, dies getan zu haben – zum Motiv ist weiterhin nichts bekannt.
Dienstag, 28. August 2012: Im Zuge der Ermittlungen wird die der Staatsanwaltschaft und Polizei bekannte Substanz aus den Trinktüten noch einmal in einem Labor untersucht. Dabei soll geklärt werden, wie giftig die Substanz ist, die der Ehemann dem Fruchtsaft nach eigenen Angaben beigemischt hat, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Daraus lasse sich ableiten, ob der Tatverdächtige die Absicht hatte, seine Frau zu töten. Der Mann, der ebenfalls davon getrunken hatte und mit Vergiftungssymptomen im Krankenhaus behandelt werden musste, hatte im Gegensatz zu seiner Frau einen deutlich glimpflicheren Verlauf.
Montag, 3. September 2012: Die Staatsanwaltschaft teilt mit, dass sie nun lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung gegen den Mann ermittele. „Die bisherigen Ermittlungsergebnisse deuten mittlerweile darauf hin, dass der Beschuldigte nicht die Absicht hatte, seine Frau zu töten“, sagt Passade zur Begründung. Die Ergebnisse des Gutachtens, wie giftig die Substanz war, stünden noch aus. Weiterhin gibt es keine Informationen zum Motiv.
Montag, 9. September 2013: Ein Jahr später: Das Amtsgericht verurteilt den Ehemann wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von insgesamt 120 Tagessätzen zu je 20 Euro, die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. In der Verhandlung lässt der Mann, der wegen einer Erkrankung nicht selbst sprechen kann, den Ablauf der Geschehnisse durch seinen Rechtsanwalt schildern: Er habe Schwung ins eheliche Leben bringen wollen. Im Internet habe er gelesen, dass die Substanz – es handelte sich um sogenannte K.-o.-Tropfen – eine sexuell enthemmende Wirkung haben solle. Laut Experten können K.-o.-Tropfen eine potenziell lebensgefährliche Wirkung haben.
Eine Safttüte habe er seiner Frau gegeben, die andere selbst getrunken. Während seiner Frau offenbar der Geschmack missfallen und sie nur einen Schluck genommen habe, habe er seine Tüte komplett ausgetrunken. Kurz darauf habe er das Bewusstsein verloren und sei in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Seine Ehefrau sei zwei Tage später zusammengebrochen, nachdem sie eine der anderen mit der Substanz versehenen Tüten getrunken habe, berichtet der WESER-KURIER aus dem Gericht.
Als er im Krankenhaus aufgewacht sei und verstanden habe, was passiert war, sei ihm die ganze Sache sehr peinlich gewesen. Weil er darauf hingewiesen habe, dass der Fruchtsaft merkwürdig schmecke, habe er nicht damit gerechnet, dass ihn noch jemand trinken werde. Außerdem seien die restlichen Safttüten in seinem Schreibtisch verstaut gewesen. Was er getan habe, tue ihm unendlich leid.
Vor dem Verhandlungstag hat es nach Angaben des Vorsitzenden Richters Hans Ahlers Gespräche zwischen Kammer, Staatsanwaltschaft und Verteidigung „mit dem Ziel einer Verständigung“ gegeben. Bei seiner Entscheidung habe das Gericht eine Reihe von strafmildernden Umständen berücksichtigt. Der Angeklagte sei nicht vorbestraft, habe sich mit dem Opfer versöhnt und sei sehr krank. „Man kann davon ausgehen, er wird nicht wieder straffällig“, so der Richter. Letztlich habe das Ganze mit einem tragischen Geschehen in einer langjährigen Beziehung zu tun.

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