Ein Sonnabend Anfang Dezember 1995. Das Hemelinger Callgirl Susanne* (23) sitzt im Waschsalon, liest Zeitung. Seit Mai trifft sie sich regelmäßig mit dem Fuhrunternehmer Jürgen Schneider* (31), der ihr von seinem Zwillingsbruder erzählt – einem glücklich verheirateten zweimaligen Familienvater, dessen Ehefrau samt Nachwuchs verschwunden ist. Scheinbar. Susanne wartet auf die Wäsche, blättert, stutzt. Urplötzlich begreift sie, dass ihr anfangs ganz normaler Hunderter-Kunde sie anscheinend anlügt. Er hat sich diesen Bruder offenbar ausgedacht – offensichtlich, um von sich zu sprechen. „Mordverdacht gegen Jürgen Schneider“, schreibt die Zeitung. Haftbefehl.
Callgirl vertraut ihrem Kunden
„Ganz schön mulmig“ sei ihr zumute gewesen, berichtet Susanne den Reportern, schließlich habe der Sohn einer Bürokauffrau und eines als Bundesbahner arbeitenden Maurers gar ein neues Leben mit ihr anfangen wollen. Die junge Frau zweifelt an ihrer Menschenkenntnis. Anzug, meist schwarz, helles Hemd, Krawatte, edle schwarze Schuhe – Jürgen Schneider sei stets sehr gepflegt und sehr gebildet aufgetreten. Nicht zuletzt von Berufs wegen erfahren, Märchen und Wirklichkeit zu unterscheiden, vertraut sie ihm dennoch. Susanne: „Ich muss wirklich sagen, das meiste habe ich ihm geglaubt. Es war überzeugend.“
Seit zwei Wochen rätseln die Menschen in Bremen und umzu zu diesem Zeitpunkt bereits über das Verschwinden von Petra Schneider* (28), Sohn Patrick* (4) und Tochter Lisa* (wenige Monate). Die Leiche der rund 1,70 Meter großen Ehegattin haben Spaziergänger wenige Tage zuvor zwischen Tarmstedt und Zeven gefunden, verscharrt im Waldgebiet Großes Holz.
Von den Kindern fehlt jede Spur
Von ihrem glatten kastanienbraunen Haar, das sie modisch-halblang trägt, ist kaum etwas übrig. Bedeckt von Ästen und Laub, liegt sie dort unbekleidet, auf einem kleinen Scheiterhaufen mittels Benzin angezündet, weitgehend verkohlt. Von den Kindern fehlt weiter jegliche Spur. Das ändert sich, als die Ermittler in einer ruhigen Wohngegend zwischen frei stehenden Ein- und Zweifamilienhäusern die Doppelhaushälfte der Familie durchsuchen und auf Ungereimtheiten stoßen: Das Ehebett ist frisch bezogen, die alte Bettwäsche und ein Kopfkissen jedoch fehlen. Der Schlüsselbund der Toten liegt ebenso daheim wie Lisas Wickeltasche. Zudem ist das Auto der Familie verschwunden – ein lilafarbener Peugeot 106, Sonderausstattung Long Beach. Da das Fahrzeug über eine elektronische Wegfahrsperre verfügt, deren vierstelligen Zahlencode neben dem Ehepaar lediglich eine Verwandte kennt, die keinen Verdacht erregt, kommt schlichtweg nur noch einer als Täter in Frage: Jürgen Schneider.
Wenn seine Gattin doch mit ihren Kindern zu einer längeren Einkaufstour starten wollte, so wie er es am Mittwoch, 22. November 1995, gemeinsam mit einem seiner beiden realen Brüder, Polizist von Beruf, selbst zu Protokoll gibt: Warum hat sie diese Utensilien nicht mitgenommen? Und vor allem, warum weiß Jürgen Schneider ein paar Wochen nach dieser Vermisstenanzeige auf einmal, wo Lisa und Patrick geblieben sind?
Die Lüge beherrscht er
Originalität und Kreativität, damit habe er fraglos gewuchert, bescheinigen seine damaligen psychologischen Gutachter – ein stets selbstbeherrscht und gelassen auftretender Zeitgenosse. Ein wenig zu sehr, insbesondere um seine Gesundheit, besorgt, habe er gern Beschwerden geäußert, die für ihn selbst schwer nachvollziehbar gewesen seien. Aber Lügen und Betrügen, das habe Schneider letztlich ebenfalls gut beherrscht. Kurzum, er sei ein zielstrebiger, vor keinem Risiko banger Mensch, der es schaffe, reuelos zu manipulieren. Die bremische Variante von „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“.
Hier als hart arbeitender, von der gesamten Nachbar- und Verwandtschaft als glücklich eingeschätzter Spediteur, dort als regelmäßiger Gast bei Prostituierten gehobener Preisklasse: Einerseits malocht Schneider zwölf Stunden und mehr am Tag. In seinem kleinen Mercedes-Lkw pendelt er zwischen der Verwaltung seines Arbeitgebers und der Produktionsstätte. Nebenbei macht er Umzüge, um seinen Lohn schwarz aufzubessern. Anderseits zeichnet der gelernte Speditionskaufmann nur allzu gern ein Bild von sich, das irgendwo zwischen dem kosmopoliten Geschäftsmann, dem japanischen Kampfpriester geheimer Ordenszugehörigkeit, dem Bodyguard mit Spezialausbildung und dem gönnerhaften Lebemann verortet ist. Dabei gilt er – in einem Kinderheim groß geworden – zu Schulzeiten vor allem als Klassenclown und Einzelgänger.
Ruft er das Callgirl Susanne an, erzählt er, er sei gerade in Zürich, Dänemark oder Japan. Besucht er sie, bleibt er oft mehrere Stunden, bezahlt mit Bündeln von Hundertern, manchmal samt Banderole der Bank. 1800 Mark Honorar plus 200 Mark Trinkgeld, das ist keine Seltenheit. Schnell ist ihm jedoch nach mehr als Sex und Small Talk. Mal schenkt er ihr einen gebrauchten Videorekorder, mal Schokolade, Kaffee und Chips, mal teuren Schmuck. Gegen ihren Willen will er sie küssen, eine intensivere Beziehung aufbauen, sie gar freikaufen – und durchbrennen. Susanne lehnt dankend ab, trifft sich aber weiter. „So einen guten Kunden gibt man ja schließlich nicht so leicht auf“, resümiert sie – in Wahrheit ebenfalls verheiratet.
Seine Interessen nachdrücklich durchzusetzen, darauf sei er kaum erpicht gewesen, sagen Zeugen wie Psychologen. Mit Susanne – und einer Handvoll weiterer Prostituierter – pflegt Schneider ein freundschaftliches Verhältnis. Er bummelt mit den Liebesdienerinnen über den Freimarkt, geht mit ihnen essen, beteiligt sich an der Miete und spaziert Händchen haltend durch die City. Mit einer der Frauen soll er dort sogar ein neues Kopfkissen gekauft haben. Eines, das das im Schlafzimmer fehlende ersetzt – das mutmaßliche Tatwerkzeug. In jedem Fall ist Petra laut Gerichtsmedizin unter einer weichen Bedeckung erstickt und erst im Anschluss im Wald verbrannt worden.
Die Durchsuchungen bei Schneider laufen weiter – bis die Ermittler in einem Papierkorb eine Taxiquittung entdecken. Eine Fahrt innerhalb Hamburgs, vom Flughafen zum Hauptbahnhof. Die Fahndung an Elbe und Alster startet. Wenige Stunden später finden Polizisten den Peugeot 106 am Airport. Mit diesen Erkenntnissen konfrontiert, gibt Schneider den entscheidenden Hinweis auf den Verbleib der Kinder. Es dauert nicht lange, da macht die Kripo die Leichen von Lisa und Patrick im Osterbekkanal aus. „Den Hinweis auf die toten Kinder konnte nur der Täter geben – zumindest deutet alles krass darauf hin“, stellt der Stader Oberstaatsanwalt Wolfgang Hake in der Pressekonferenz klar. Randnotiz: Das Kinderheim, in dem der Tatverdächtige einige Jahre gelebt hat, liegt gleich um die Ecke.
Die Tat wird rekonstruiert
Die Rekonstruktion der Tat steht. Wenige Tage nach Nikolaus präsentiert die Polizei ihre Version: Am Abend des 24. November sucht Schneider ein Versteck auf, aus dem er die sterblichen Überreste der Kinder abholt, um sie – in einer Alukiste verstaut – zu versenken. Der Obduktion nach sind Lisa und Patrick zu diesem Zeitpunkt bereits eines unnatürlichen Todes gestorben, ohne äußere Verletzungen aufzuweisen. Im späteren Prozess stellt sich heraus, dass Schneider die beiden offenbar erdrosselt hat. Vom Kanal fährt er mit dem Auto zum Flughafen Fuhlsbüttel und stellt den Wagen dort ab. Der Taxifahrer, der einen Schneider sehr ähnlichen Mann beschreibt, bringt seinen Fahrgast zum Hauptbahnhof, wo dieser den letzten Zug nach Bremen nimmt.
Was hat diesen Mann dazu gebracht, seine Familie auszulöschen? Noch fünf Tage, nachdem Lisa und Patrick verschwinden, zeigt er sich rührselig in einer Boulevardzeitung. Eine Hundertschaft der Polizei durchkämmt das Waldstück bei Zeven noch einmal nach den Kindern, während die Journalistenschar sich vor der Doppelhaushälfte der Schneiders versammelt. Der Witwer gewährt lediglich ausgewählten Reportern den Zutritt. Diese freuen sich über Einblicke in das Familienalbum und ein Bild, auf dem Schneider den Teddybären seines Sohnes in die Kamera hält.

Großer Andrang der Medien, bei einer Pressekonferenz zum Mordfall.
Ein wirkliches Motiv für die Tat fehlt – bis zuletzt. Das Gericht entscheidet dennoch auf die Höchststrafe: lebenslänglich wegen dreifachen Totschlags in besonders schwerem Fall. Die Beobachter auf den Zuschauerbänken des Gerichts führen das Verbrechen bereits früh auf Schizophrenie zurück; die Sachverständigen stufen Schneider indes als uneingeschränkt schuldfähig ein. Typisch für eine Schizophrenie sei die Persönlichkeitsspaltung, das Leben in inneren Welten, deren Widersprüchlichkeit der Schizophrene nicht bemerke. Der Angeklagte jedoch wisse die Welten sauber zu trennen und sei überdurchschnittlich intelligent. Das Bild des braven, treu sorgenden Familienvaters habe Schneider nur deshalb störungsfrei aufrechterhalten können, weil er seine Sehnsüchte mit den Damen ausgelebt habe.
Kindheit im Wohnwagen
Woher diese rühren? Das bleibt unbeantwortet. Eine vage Spur führt in eine nicht immer einfache, zuwendungsbedürftige Kindheit. Ein Großteil dieser spielt sich auf einem Campingplatz nahe Zeven, im elterlichen Wohnwagen ab. Schneider besucht einen Kindergarten für Hörgeschädigte sowie eine Grund- und Hauptschule für Hörgeschädigte und Gehörlose. Im Alter von sechs Jahren bekommt er einen kleineren Bruder – laut Gutachten ein Grund für frühen Neid.
Nach der siebten Klasse löst sich Schneider von seiner Familie, zieht ins Kinderheim, um eine geeignetere Schule in der Nähe zu besuchen. 1986 lernt er seine zweite Freundin, Kinderkrankenschwester Gabi*, kennen. Die beiden heiraten, gehen gemeinsam nach Bremen, wo Sohn Marcel* auf die Welt kommt. Die Ehe steht früh unter einem schlechten Stern. Auf einem Polterabend eines Kollegen kommt er seiner Kollegin Petra – damals 22 – näher. Mit ihr habe er über alles reden können, nie Stress oder Streit gehabt, aber guten Sex („Was Besseres gab‘s nicht.“). Kein Grund also, ins Rotlichtmilieu abzudriften.
Seine Version der Geschichte nimmt das Gericht Schneider nicht ab. Das mag auch daran liegen, dass er die Aussage seiner Mutter überlässt, Zeugin Nummer 49: In der fraglichen Herbstnacht 1995 sei er frühmorgens nach Hause gekommen. Der Nachwuchs hat demnach bereits tot auf dem elterlichen Bett gelegen, die Gattin weinend auf der Bettkante gesessen. Ein Streit, eine körperliche Auseinandersetzung und ihre Schwiegertochter sei mit dem Kopf auf die Kante geschlagen. Weitere Fragen habe ihr Sohn abgewehrt. Begründung: Mehr verkraftete sein Schwiegervater nicht.
*Namen von der Redaktion geändert

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